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Nacht der Begierde


              Charlene Teglia

              Nacht der Begierde

 

              Erotischer Roman

 

              Aus dem Englischen von Dora Linder


               

               

              Für die phantastische Crew

 

              von The Human Bean, die für mich immer

 

              einen guten Espresso bereithält

 


KAPITEL 1

 

 

              Es ist unglaublich, wie viel sich von einer Sekunde zur nächsten verändern kann.

              Gerade eben noch war ich allein im Leder-Laden Tysons Corner und damit beschäftigt, Waren einzuräumen. Ich hängte Jacken auf die Bügel zurück, die jemand anprobiert, sich dann aber gegen sie entschieden hatte. Oder die, was noch wahrscheinlicher war, nur deshalb anprobiert wurden, weil ich mich dann nach ihnen umdrehen und sie vom Ständer angeln musste. Einen Nachmittag dieser Art hatte ich gerade hinter mir.

              Und dann stellten sich mir plötzlich die Nackenhaare auf. Mein erster Gedanke war «Ach du Scheiße, jetzt wirst du ausgeraubt». In diesem Fall würde ich schlicht und einfach die Kasse öffnen, damit die Idioten sie ausräumen konnten. Es gibt Dinge, für die man sich einsetzt, aber ein schlechtbezahlter Job in einem Einkaufszentrum gehört ganz bestimmt nicht dazu.

              «Ich will … diese da», sagte eine Stimme dicht an meinem Ohr. Die Stimme klang tief, männlich und erinnerte mich an ein Knurren. Ihr Besitzer atmete aus, und ein warmer Hauch strich über die bloße Haut meines Nackens. Ich wünschte, meine Haare wären nicht ganz so kurz geschnitten. Der Atem dieses seltsamen Mannes bescherte mir ein merkwürdiges Gefühl von Verwundbarkeit.

              Ich drehte mich um und brachte ein bisschen Abstand sowie eine braune, lederne Bomberjacke zwischen uns. Jetzt sah ich erst, mit wem ich es eigentlich zu tun hatte. Seine Augen waren dunkelbraun, aufgehellt durch ein bisschen Bernstein. Sein Haar hatte eine ähnliche Farbe. Es fiel ihm auf die Schultern, obwohl es durch die Locken etwas kürzer aussah. Ein entschlossener Ausdruck lag auf seinem slawisch aussehenden Gesicht, und obwohl er nicht viel größer als einen Meter achtzig war, wirkte jeder Zentimeter respekteinflößend. Er trug Jeans, Cowboystiefel und ein weißes, langärmeliges T-Shirt mit Harley-Davidson-Logo, das jetzt, mitten im Winter, unmöglich warm genug sein konnte, selbst hier in Virginia.

              Die Unruhe, die sein Erscheinen in mir ausgelöst hatte, wollte sich jedoch nicht legen, deshalb blieb ich wachsam. Ich habe ein ziemlich gutes Gefühl für brenzlige Situationen, und es hat mich schon zu oft vor Ärger bewahrt, als dass ich es einfach ignorieren konnte.

              «Ich glaube nicht, dass das Ihre Größe ist», sagte ich und hielt weiter das genarbte Leder zwischen uns. Nicht dass es für ihn ein Hindernis dargestellt hätte, aber es war besser als nichts. «Da drüben sind noch mehr.» Ich wies ihm mit einer Kopfbewegung die Richtung, in der sich der Ständer befand. Ich hielt meine Arme dicht an meinem Körper, auf mittlerer Höhe, wo ich mich gut gegen Angriffe von oben oder unten verteidigen konnte.

              Er warf mir einen abschätzenden Blick zu und ging zu den anderen Bomberjacken. Das Atmen fiel mir sofort etwas leichter, als ein paar Schritte Abstand zwischen uns waren.

              «Chandra», sagte er gedehnt. Er hob prüfend einen Ärmel an, während er sprach. «Heißen Sie so?»

              «So steht es auf dem Schild», erwiderte ich und lächelte mit angespanntem Mund. Ich hatte nicht vor, ihn zu irgendwelchen Vertraulichkeiten zu ermuntern. Er war in meinem Laden aufgetaucht, als ich allein war, er war mir viel zu nahe getreten, er hatte mich seinen Atem spüren lassen, und nun sprach er mich auch noch mit meinem Namen an. Das war zwar ein guter Trick, jemanden in Sicherheit zu wiegen: ihn mit Namen anzusprechen. Auf mich hatte es aber den gegenteiligen Effekt.

              «Wussten Sie, dass Chandra ‹der Mond, der leuchtet› bedeutet?»

              «Nein», log ich. Ich hatte das zwar in irgendwelchen Büchern gelesen, aber ich war mir ziemlich sicher, dass es nichts anderes bedeutete, als dass meine leiblichen Eltern Philosophie- oder Soziologiestudenten gewesen waren und mehr Flausen im Kopf hatten als Verstand oder Geld. Sie gaben mich zur Adoption frei, bestanden aber darauf, dass ich den Namen behielt. Wobei ich manchmal schon gedacht hatte, dass sie das gemacht hatten, um mich irgendwann einmal wiederfinden zu können. Es gibt ja schließlich nicht so viele rothaarige Frauen Anfang zwanzig mit Sanskrit-Namen.

              «Träumst du manchmal von uns?» Er hob den Kopf, während er mich das fragte, den Blick gespannt auf meine Augen gerichtet.

              «Ich habe eine Menge Träume. Jeder träumt von etwas.» Ich lockerte meine Muskeln, bereit, wegzurennen oder mich zur Wehr zu setzen, wenn es nötig wäre. An dieser Begegnung war mir alles suspekt. «Mein Lieblingstraum ist es, etwas zu verkaufen und meinen Job zu behalten. Wollen Sie die Jacke nun kaufen?»

              «Ich habe sie ja noch nicht einmal anprobiert.» Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das mir nicht gefiel, obwohl ich zugeben musste, dass es ihm gut stand. Er wirkte, als würde er sich über mich lustig machen. Mit mir spielen.

              «Ich bin nicht sicher, ob sie passt.» Er nahm die Jacke vom Bügel und zog sie an. Es kam mir so vor, als ob er alle Bewegungen absichtlich in die Länge ziehen würde, als eine Art Aufführung für mich.

              Ich verfolgte, wie er sich bewegte, aber nicht, weil mir sein hübscher Körper gefiel. Ich registrierte die gebändigte Kraft in seinen Bewegungen und musste zugeben, dass ich seine Stärke möglicherweise eher unterschätzt hatte. Wenn es darum ging, zu kämpfen oder wegzulaufen, würde ich mich wohl für die Flucht entscheiden. In einer körperlichen Auseinandersetzung würde ich sicher den Kürzeren ziehen, egal wie viele schmutzige Tricks ich kannte. Er war kraftvoll und geschmeidig, und er wusste offensichtlich, seinen Körper einzusetzen.

              «Ich heiße Zach», sagte er und strich dabei die Vorderseite der Jacke glatt. Mein Blick verfolgte seine Bewegungen. Die Jacke stand ihm. Ich vermutete, dass ihm auch alles andere stehen würde.

              «Sehr erfreut.» Mein Tonfall sollte distanziert und unfreundlich klingen. Das Glänzen in seinen Augen zeigte mir jedoch, dass ihn das nicht zu entmutigen schien.

              «Jetzt sprechen wir uns immerhin schon mal mit Vornamen an.» Zach, der Fremde, machte einen Schritt vorwärts, und ich tat einen Schritt zurück, um den Abstand zwischen uns zu wahren. Er zog eine Augenbraue hoch, während er mich ansah. «Wollen Sie etwa weglaufen?»

              Ich tat so, als hätte ich die Frage gar nicht gehört. «Bomberjacken sind diese Woche um 20 Prozent runtergesetzt. Wollen Sie sie gleich anbehalten?»

              «Ja.» Er grinste mich an. «Ich nehme an, ich soll möglichst schnell bezahlen und dann verschwinden.»

              «Sie sollten auch noch Lederpflege mitnehmen.» Ich deutete auf das Regal neben der Kasse. «Sie sollten sie damit behandeln, bevor sie das erste Mal nass wird.»

              «Die Kuh, von der sie stammt, hat doch auch draußen gestanden und ist nass geworden», bemerkte Zach, und dabei zuckten seine Lippen so, als ob er sich beherrschen müsste, nicht sofort loszulachen.

              «Eine Kuh ist allerdings auch kein modisches Kleidungsstück.» Ich ging um ihn herum zur Kasse, stets bemüht, ihm dabei nicht den Rücken zuzuwenden.

              «Nun fangen Sie schon an zu bestimmen, wie ich mich kleide, und dabei sind wir noch nicht mal zusammen ausgegangen.» Zach, der hemmungslose Aufreißer, zog die Jacke wieder aus und gab sie mir, damit ich den Preis scannen konnte. Sein Flirten machte mich keinesfalls sicherer. Alles an diesem Fremden signalisierte Achtung, Gefahr!, egal wie toll er aussah in seinen engen Jeans, den Cowboystiefeln und der Lederjacke.

              «Na, dann sind Sie ja nochmal glimpflich davongekommen, denn wir werden sicher nie zusammen ausgehen.» Ich setzte die Lederpflege mit auf die Rechnung und nannte ihm den Gesamtbetrag.

              Zach gab mir eine goldene Kreditkarte, die meine Meinung von ihm um keinen Deut änderte. Geld hatte er also. Was ihn jedoch nicht ungefährlich machte. Vielleicht ging dadurch noch eine größere Gefahr von ihm aus. Manche Leute denken ja, dass man für Geld alles bekommt und man sich nicht mehr an Regeln halten muss.

              Die Karte verriet, dass sein voller Name Zachary Neuri war. Ich gab ihm die Jacke, damit er sie gleich anziehen konnte, und tat die Flasche, von der ich nicht glaubte, dass er sie jemals benutzen würde, in eine Tüte. Weshalb es mich umso mehr freute, dass ich sie ihm verkauft hatte.

              «Sie misstrauen mir irgendwie.» Zachs Lächeln verschwand, während er die Jacke überzog.

              «Vor Männern wie Ihnen hat mich meine Mutter immer gewarnt.»

              «Dann hätten Sie mich doch eigentlich schon erwarten müssen.» Bei diesen Worten sah er mich so durchdringend und entschlossen an, dass ich mich beherrschen musste, um nicht sofort einen Schritt rückwärts zu machen. «Wir werden uns wiedersehen, Chandra.»

              Nachdem er gegangen war, blieb ich stehen und konzentrierte mich auf meinen Atem, bis sich mein Herzschlag schließlich wieder beruhigt hatte. Was war das für eine komische Bemerkung über meine Mutter gewesen? Ich hatte über meine Adoptivmutter geredet, aber konnte es sein, dass er irgendetwas mit meiner geheimnisumwobenen leiblichen Mutter zu tun hatte, über die ich nichts herausfinden konnte?

              Schließlich machte ich mich daran, weiter Ordnung bei den Waren zu schaffen, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich beobachtet wurde. Als zwei andere Kollegen eintrafen und meine Schicht beendet war, freute ich mich, endlich abhauen zu können. Ich durchstreifte das große Einkaufszentrum noch eine Weile planlos, für den Fall, dass ich nicht einfach nur schreckhaft und paranoid war, nachdem ich Mr. Wir-sprechen-uns-noch getroffen hatte.

              Normalerweise lassen mich solche Typen kalt, selbst die echt miesen. Aber Zach war anders gewesen. Ich konnte niemanden entdecken, der seine Größe und Figur hatte, konnte weder die braune Bomberjacke noch seine Locken irgendwo sehen, während ich immer wieder stehen blieb und mich umsah, als ob ich etwas suchen würde. Auf diese Weise näherte ich mich dem Ausgang und hielt auf den Parkplatz zu, auf dem ich mein Auto abgestellt hatte. Ich ging zügig aber gleichmäßig, mit erhobenem Kopf, die Augen geradeaus, die Schlüssel einsatzbereit in meiner Hand.

              Zwei Männer und eine Frau stiegen aus einem Auto, das dicht bei meinem stand. Ich sah sie nicht direkt an, registrierte nur ihre Position und ging so, dass sich unsere Wege nicht kreuzen würden.

              Trotzdem geschah genau das, da sich die drei direkt auf mich zubewegten und eine Art loses Netz um mich legten. Sie waren schon viel zu dicht an mich herangekommen, als dass ich noch die Möglichkeit gehabt hätte, die Tür aufzuschließen und mich in Sicherheit zu bringen. Deshalb stellte ich mich, sprungbereit wie eine Katze und meine Autotür im Rücken, locker in Position.

              In meinem Nacken prickelte es wieder, und ein Schauder lief in Wellen über meine Haut. Ich ließ mich davon nicht irritieren, sondern behielt die drei genau im Auge.

              Deshalb entdeckte ich Zach, bevor sie ihn überhaupt wahrgenommen hatten. Er tauchte hinter ihnen auf, scheinbar aus dem Nichts, und schob sich blitzschnell vor mich.

              «Rhonda. Wilson. Miguel.» Zach nickte ihnen zu. «Wolltet ihr irgendwas?»

              «Ist das deine neue Schlampe?»

              Die Frau, die wohl Rhonda sein musste, hatte das gefragt. Angesicht dieses Knast-Jargons hatte ich plötzlich Zach und mich vor Augen, in orangefarbenen Gefängnis-Klamotten, und ich musste schlucken, um nicht laut loszulachen. Seine Schlampe? War das ein Witz?

              «Das geht euch nichts an», antwortete Zach nüchtern.

              «Aber sie hält sich in unserem Revier auf.» Das kam von dem hünenhaften, kahlgeschorenen Farbigen. Mir war nicht klar, ob es Miguel oder Wilson war, denn keiner von ihnen sah wie ein Latino aus.

              «Sie arbeitet im Einkaufszentrum.»

              «Dann sollte sie sich besser einen anderen Job suchen. Wäre gesünder für sie.»

              Ich begann zu frösteln. War ich da in die Revierstreitigkeiten irgendwelcher Gangs hineingeraten? Na, vielen Dank auch, Zach.

              «Ihr Wohlergehen ist mir äußerst wichtig.» Zachs Stimme bekam einen furchteinflößenden Unterton.

              «So wichtig, dass du uns beleidigst?» Diese Bemerkung kam von Rhonda und wurde begleitet von einem Karate-Mawashi-geri, der zeigte, dass sie nicht nur hübsch war.

              Danach ging alles sehr schnell, und Sekunden später fanden sich alle drei auf dem Boden wieder. Zach packte mich am Arm, schnappte sich meine Schlüssel und öffnete das Auto, bevor er mich hineindrängte und mir ohne zu zögern folgte.

              Ich schob mich über den Schaltknüppel auf die Beifahrerseite, mit dem Rücken zur Tür und einer Hand am Türhebel, um sofort wieder auszusteigen. Den anderen Arm ergriff Zach so fest, dass es fast schmerzte.

              «Halt.»

              Ich erstarrte. Dann entdeckte ich auf seinem Harley-Hemd eine Blutspur, die vorher nicht da gewesen war. Auch ein frischer Riss war zu sehen. «Sie haben vergessen, die Jacke zu schließen», sagte ich und starrte auf seine Verletzung. Das war ein Fehler gewesen. Das Leder hätte ihn möglicherweise geschützt. «Wer von ihnen hatte das Messer?»

              «Rhonda.»

              «Und mich beleidigt sie mit Knastjargon?» Kopfschüttelnd streckte ich meine Hand aus, um das Hemd hochzuziehen und nachzusehen, wie schlimm er verletzt war. «Brauchen Sie einen Arzt?»

              «Nein. Es war ja kein Silber.»

              Ich runzelte die Stirn und konnte mir nicht vorstellen, was es für einen Unterschied machen sollte, aus was für einem Metall die Klinge war. Meine Verwunderung nahm noch zu, als ich auf seinem perfekten, muskulösen Bauch keine Spur von dem Schnitt entdecken konnte, den er dem zerrissenen Hemd und dem Blut zufolge davongetragen haben musste.

              «Da ist nichts, aber Sie dürfen mich gern genauer untersuchen.» Ich blickte auf und stellte fest, dass Zach mich amüsiert ansah, mit einer Glut in den Augen, für die es in Anbetracht der Situation eigentlich keinen Anlass gab.

              Ich legte die Hand auf seine nackte Haut und betastete sorgfältig jeden Zentimeter, der nicht von seiner Jeans bedeckt war. Bauch, Rippen, Brust, alles kraftvoll und warm, nirgendwo war auch nur die Spur einer Verletzung zu erkennen.

              «Ich kann meinen Reißverschluss aufmachen, wenn Sie weitermachen möchten.» Zach deutete auf seinen Schoß. Ich zog meine Hand zurück, ließ das T-Shirt herunterrutschen und lehnte mich zurück.

              «Nein, vielen Dank.» Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Noch immer traute ich ihm nicht, aber er hatte mich verteidigt und für mich gekämpft. Hatte für mich eine Verletzung davongetragen. Die nun irgendwie verschwunden war? «Wer zum Teufel sind Sie?»

              «Zach.» Er nahm meine linke Hand, die er immer noch nicht losgelassen hatte, und zog sie an seine Lippen. Er drückte einen warmen Kuss auf meinen Handrücken. Hitze durchflutete mich. «Wir werden uns bald wiedersehen.»

              «Nein, das werden wir nicht.»

              «Der Mond nimmt zu.» Zach beugte sich zu mir herüber und legte mir seine andere Hand auf die Wange. Ich zuckte nicht zurück. «Noch drei Nächte, und dann werden wir Vollmond haben. Wenn du bis dahin nicht freiwillig zu uns kommst, werden wir dich holen müssen. Es ist so weit.»

              «Gehören Sie etwa zu einer Bande oder zu irgendeinem Kult?», platzte es aus mir heraus. «Ich will nicht in irgendwelche Schwierigkeiten kommen.»

              «Aber leider haben es die Schwierigkeiten auf dich abgesehen.» Zach streichelte meine Wange, ließ seinen Finger über meinen Kieferknochen gleiten und berührte meine heftig pulsierende Halsschlagader. «Du suchst dir besser einen neuen Job. Wir haben dich beschützt, aber uns ist nicht wohl dabei, wenn du dich sechs Tage in der Woche im Revier der Panther aufhältst. Nächstes Mal sind sie vielleicht noch mehr oder schneller als heute.»

              Zach hatte unglaublich schnell reagiert, aber trotzdem hatten sie ihn erwischt. Und dann sollten sie noch schneller sein? Im Geiste verabschiedete ich mich bereits von meinem Job und fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis ich einen neuen fände. Vielleicht sollte ich gleich anderswohin ziehen. Zachs Andeutungen, dass mich jemand ständig beobachtete, mir folgte und mich in drei Tagen holen wollte, ließen mir das Gras anderswo plötzlich sehr viel grüner erscheinen.

              «Versuch nicht wegzulaufen.» Zach sah mich so besorgt an, als ob er meine Gedanken lesen konnte. «Es ist gefährlich für dich, wenn du nicht in unserer Nähe lebst, gerade jetzt. Du musst nach Hause kommen.»

              «Ich habe ein Zuhause. Und Sie gehören nicht dorthin.» Nicht dass ich es als unangenehm empfunden hätte, neben ihm aufzuwachen, aber er schien bis zum Hals in Schwierigkeiten zu stecken. Und jeder, der neben ihm schliefe, würde automatisch gefährdet sein.

              «Vielleicht gehörst du ja in mein Zuhause.» Zachs Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, und er senkte seinen Kopf ein wenig. Was folgte, war kein richtiger Kuss, sondern eher ein Versprechen, eine angedeutete Berührung seiner Lippen, ein heißer Atemhauch. Aber es reichte, um mein Herz aussetzen zu lassen und mein Blut in Wallung zu bringen. «Komm zu uns, Chandra. Du findest uns an dem Ort, von dem du träumst.»

              Bevor mir eine passende Entgegnung einfiel, war Zach bereits verschwunden, und ich fragte mich fast, ob ich das alles nur geträumt hatte. Für den Fall allerdings, dass es nicht so war und da draußen noch mehr Leute waren, die mich angreifen wollten, kletterte ich wieder auf den Fahrersitz und machte mich schnell auf zu meiner hübschen, sicheren, völlig normalen Wohnung, in der hoffentlich nicht noch mehr Überraschungen auf mich warteten.


KAPITEL 2

 

 

              Zu Hause angekommen, fühlte ich mich immerhin ein bisschen sicherer, aber nicht sicher genug, um mich wohlzufühlen. In der Eingangshalle nahm ich noch meine Post mit. Wie immer blätterte ich sie gleich dort noch kurz durch. Natürlich war wieder einer davon für 2 c und nicht für 2 b. Den stellte ich oben auf die Briefkästen, wie alle Mieter es taten, wenn sie falsch zugestellte Sendungen fanden, da nur der Zusteller die Boxen von hinten öffnen konnte.

              Angespannt und beunruhigt stieg ich die Treppe hinauf, bis ich vor meiner Wohnungstür im zweiten Stock stand. Als ich sie hinter mir zugezogen und abgeschlossen hatte, ging es mir ein bisschen besser. Es konnte einer Frau schon ganz schön an die Nerven gehen, plötzlich auf einem Parkplatz überrumpelt zu werden.

              Ich warf die Post auf den Küchentresen, schlang rasch mein Abendessen in mich hinein, um meinen in letzter Zeit auffälligen Heißhunger zu stillen, und fütterte dann meine Goldfische, Ernie und Bert. Zusammen mit dem Aquarium, in dem sie lebten, hatte ich die beiden in der Woche gekauft, bevor ich meinen jetzigen Job angetreten hatte.

              In einem Feng-Shui-Buch hatte ich gelesen, dass Goldfische in der Wohlstandsecke einer Wohnung vor finanziellen Problemen bewahren können. Jetzt fragte ich mich, ob es wohl auch ein Feng-Shui-Rezept gab, um herauszufinden, ob ein Arbeitsplatz in der umkämpften Zone zweier rivalisierender Banden liegt.

              Ernie und Bert kamen mit geöffneten Mäulern an die Oberfläche und erwarteten ihr Abendessen. Ich streute eine Prise Fischfutter auf die Wasseroberfläche und sah zu, wie sie daran zupften.

              «Ich habe heute ein paar neue Leute kennengelernt», erzählte ich ihnen und dachte dabei an Rhonda, Miguel und Wilson. Und Zach. Nicht zu vergessen Zach. Zach, der so heftig mit mir geflirtet hatte, dass die Haarwurzeln in meinem Nacken begonnen hatten zu prickeln, der drei Angreifer in die Flucht geschlagen hatte, von denen mindestens einer bewaffnet war, und der mir gesagt hatte, ich solle ihn erwarten.

              Ich erwartete ihn quasi jeden Moment. Er hatte ja zugegeben, mich beobachtet zu haben, und angekündigt, dass er, sofern ich nicht binnen drei Tagen bei ihm auftauchen würde, käme, um mich zu holen. Er hatte durchblicken lassen, dass er etwas über mich und meine leibliche Familie wüsste. Er war der Erste, der mir nach einer Reihe von vergeblichen Versuchen dabei helfen konnte, die richtige Spur zu finden, und er hatte mich neugierig genug gemacht, um ihm wiederzubegegnen.

              «Ich glaube, einer von ihnen wollte was von mir», fügte ich hinzu, obwohl Bert gar nicht danach gefragt hatte. «Er war ziemlich aufdringlich.» Wer erzählt schon, dass er einen beobachtet hat, und küsst einem dabei die Hand?

              Ich sah mich in der Wohnung um. Sie war modern und schlicht eingerichtet. Hellgrauer Teppichboden, beigefarbene Wände, weiße Jalousien hingen vor den Fenstern und der gläsernen Schiebetür, die auf einen winzigen Balkon führte. Ich steckte immer einen Keil zwischen die beiden Scheiben, damit man sie nicht von außen öffnen konnte, falls mal jemand in den zweiten Stock geklettert käme. Was nicht sehr wahrscheinlich war. Aber die Begegnung mit meinen neuen Freunden hatte mich zumindest so weit verunsichert, dass ich ausprobierte, ob die Tür wirklich sicher verschlossen war.

              Mit Ausnahme der Goldfische hatte ich nicht viel unternommen, um die neutrale Ausstattung etwas persönlicher wirken zu lassen. Im Wohnzimmer hatte ich eine Futonliege stehen, die mir als Bett und Sofa doppelte Dienste erwies, ein Bücherregal mit meiner DVD-Sammlung und einen kleinen Fernseher.

              Aus irgendeinem Grund nervte es mich heute, wie meine Wohnung aussah. Ich runzelte die Stirn und schaute genauer hin, um festzustellen, ob sich vielleicht irgendwas verändert hatte. Aber wenn das so war, konnte ich es trotzdem nicht entdecken.

              Vielleicht betrachtete ich meine Behausung gerade auch nur mit den Augen eines Fremden, und es gefiel mir nicht, was sie über mich verriet. Farblos und zweckmäßig wirkte sie, unpersönlich, eher wie ein Wartezimmer und nicht wie ein echtes Zuhause.

              Natürlich war es auch so etwas wie ein Wartezimmer. Ich hatte meinen Collegeabschluss ein Jahr früher als üblich machen können, und nun verschickte ich Bewerbungen, um eine richtige Anstellung zu finden. Bislang hatte ich zwei Angebote bekommen, für die ich in beiden Fällen an die Westküste ziehen müsste. Das klang zwar ganz interessant, aber eigentlich wollte ich Virginia nicht verlassen.

              Fairfax County lag nicht nur in unmittelbarer Nähe von Bergen und Strand, sondern war gleichzeitig Sitz von immerhin sechs Fortune-500-Unternehmen. Diese Kombination aus Karrierechancen und Freizeitangebot war so leicht nicht zu überbieten. Vor allem aber hoffte ich dadurch, dass ich in meiner Heimat blieb, eines Tages herauszufinden, wer meine leiblichen Eltern waren. Oder zumindest Antworten auf einige meiner Fragen zu bekommen.

              Wenn ich aber so sicher war, hierbleiben zu wollen, warum schien dann mein Leben nur aus Übergangslösungen zu bestehen?

              «Ich bin jung», sprach ich mit mir selbst. «In meinem Alter lässt man sich noch nicht nieder. Man kleidet sich und lebt eben so, wie es möglich ist, wenn man während der Collegezeit seine Seele für Studiengebühren-Darlehen verpfändet hat.»

              Bert und Ernie zogen zustimmend ihre Kreise. Fische sind wirklich angenehme Mitbewohner. Sie hören einem zu und widersprechen nie.

              Das rote Licht an meinem Anrufbeantworter blinkte, also drückte ich auf den Abspielknopf.

              «Hi, ich bin’s, Michelle. Von deiner Post ist was bei mir gelandet. Ich behalte den Brief als Geisel, bis du mich zurückgerufen hast. Ich hab dich seit deinem Geburtstag nicht mehr gesehen.» Es folgte eine kurze Pause auf dem Band, bevor sie fortfuhr: «Ich hoffe, dass es dir gutgeht. Es klingt, als ob deine Albträume schlimmer würden.»

              Die Stimme meiner Freundin sorgte dafür, dass sich mein Magen zusammenzog. In der letzten Zeit war ich allen aus dem Weg gegangen. Das hatte Michelle offenbar bemerkt. Außerdem lebte sie in der Wohnung genau unter mir. Wenn sie nachts laute Geräusche hörte, lag es also nicht an meiner Einbildung. Die schrecklichen Träume, die mich seit meiner Jugend verfolgten, kamen inzwischen jede Nacht.

              Seit meinem einundzwanzigsten Geburtstag vor zwei Wochen schien einfach alles irgendwie aus dem Ruder zu laufen. Mein Stoffwechsel spielte völlig verrückt. Töne, Geschmack und Gerüche, auf die ich schon immer sehr empfindlich reagierte, erschienen mir plötzlich unerträglich. Jede Kleinigkeit regte mich auf. Aber was sollte ich ihr sagen? Vielleicht: «Tut mir leid, Michelle, aber wenn ich dein Parfum rieche, ersticke ich fast, selbst wenn ich ein Stockwerk von dir entfernt bin?»

              Ich dachte wieder an Zach und seine merkwürdige Frage. Träumst du manchmal von uns? Es wäre gut, eine Erklärung für meine unruhigen Nächte zu finden und für die blauen Flecken, mit denen ich regelmäßig aufwachte, aber da ich ihm gerade erst begegnet war, konnte Zach ja wohl kaum etwas damit zu tun haben.

              In jedem Fall fragte ich mich, was er mit «uns» gemeint haben könnte. Nicht das Trio, das er auf dem Parkplatz in die Flucht geschlagen hatte. Aber irgendeine Gruppe musste es geben. Es war also nicht nur Zach, der mich in drei Tagen erwartete. Aber dass dieses uns die Familie beschrieb, von der ich so wenig wusste, wäre bestimmt zu viel erhofft. Eine vage Sehnsucht blieb trotzdem, im Zaum gehalten von einer gehörigen Portion Vorsicht.

              Ich wusste überhaupt nichts über meine Herkunft. Ich wusste so gut wie gar nichts über Zach. Und angesichts der Umstände, unter denen wir uns kennengelernt hatten, und angesichts der Dinge, die er geäußert hatte, gab es für mich jede Menge Gründe, vorsichtig zu sein, wenn ich zu ihm ginge.

              Wobei ich ja noch nicht mal eine Ahnung davon hatte, was er dachte, wie ich ihn finden sollte, selbst wenn ich es wollte. Am Ort meiner Träume? Das ich nicht lache. Das konnte doch nur ein blöder Spruch sein. Außer, dass er ziemlich ernst gewirkt hatte, als er das sagte.

              Ich war es leid, dass meine Gedanken wie ein Hamster im Rad kreisten, und befahl mir, Zach zu vergessen. Denn selbst wenn er hier auftauchen würde, um mich zu holen, würde das nicht heute passieren. Es war ja noch nicht Vollmond.

               

              Als ich aufwachte, fielen mir drei Dinge auf. Ich spürte einen kalten Luftzug von einem geöffneten Fenster, merkte, dass es mir an verschiedenen Stellen ziemlich wehtat und dass ein mir unbekannter Mann mich von hinten umklammert hielt. Seine Hände hielten meine überkreuzten Handgelenke auf meiner Brust fest, und seine Beine hielten meine wie in einem Schraubstock fest.

              Mir stellten sich die Nackenhaare auf, und Gänsehaut zog über meinen Körper. Mein erster Verdacht galt Zach, aber der Mann hinter mir passte nicht zu der Erinnerung, die ich von seinem Körperbau und seinem Geruch hatte. Ich schloss die Augen und betete leise, dass es weder Miguel noch Wilson war.

              «Hallo», sagte ich zögerlich. Meine Stimme klang so heiser, als ob ich vorher laut geschrien hätte. «Falls Sie hier sind, um mich auszurauben, ich bin pleite und besitze auch keine Drogen.»

              «Ich bin nicht hier, um dich zu bestehlen. Ich bin hier, um auf dich aufzupassen», meinte der Mann hinter mir. Es klang, als ob ihn das ziemlich sa...

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