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Europäische Integration zwischen judikativer
und legislativer Politik
Susanne K. Schmidt
1 Einleitung
Für das Verständnis der europäischen Integrationsdynamik ist die Unterschei-
dung zwischen negativer und positiver Integration zentral (Scharpf, in diesem
Band). Trotz ihrer breiten Rezeption, so argumentiere ich im Folgenden, wer-
den die Konsequenzen dieser Unterscheidung in der europäischen Integrations-
forschung vergleichsweise wenig relektiert. Bekanntermaßen zielt die Unter-
scheidung zwischen positiver und negativer Integration auf ein institutionelles
Ungleichgewicht in der Europäischen Union zwischen der Realisierung positi-
ver (also marktgestaltender) und negativer (also marktschaffender) Integration.
Während letztere durch die starke Stellung der Marktfreiheiten und des Wett-
bewerbsrechts in den Römischen Verträgen weitgehend durch die Europäische
Kommission und den Europäischen Gerichtshof durchgesetzt werden kann,
benötigt die positive Integration eine breite Zustimmung im Ministerrat und im
Europäischen Parlament.
In der Folge der weit beachteten Publikationen von Scharpf wurde insbe-
sondere gezeigt, dass die positive Integration zu weniger Pessimismus Anlass
gibt, als dies angesichts der hohen Mehrheitserfordernisse und der damit an-
gelegten Gefahr einer Politikverlechtungsfalle scheinen mag (Eichener 1993;
Héritier 1999). Relativ vernachlässigt wird aber, so mein Argument, wie negative
und positive Integration ineinandergreifen. So erscheint es eher als Ausnahme
(Kelemen 1995) denn als Regel, dass in Policy-Analysen zu einzelnen Politikfel-
dern in der EU, beispielsweise der Umwelt- oder der Sozialpolitik, einbezogen
wird, wie sich parallel zum Policy-making der Kommission, des Ministerrates
und des Parlaments die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verän-
dert. Gewöhnlich wird ausschließlich der legislative Prozess betrachtet, vermut-
lich deshalb, weil legislative Politik zum politikwissenschaftlichen Kerngeschäft
gehört. Oder aber der EuGH wird als politischer Akteur analysiert. Vor allem
In diesem Aufsatz fasse ich Ergebnisse verschiedener früherer Arbeiten zusammen. Ich danke Julia
Sievers für ihre Kommentare.
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unter dem Einluss amerikanischer (oder dort sozialisierter) Politikwissenschaft-
ler hat die Rechtsprechung des EuGH eine breite Aufmerksamkeit erfahren (Al-
ter 2001; Conant 2002; Garrett 1995; Garrett/Kelemen/Schulz 1998; Kelemen
2006; Mattli/Slaughter 1998; Stone Sweet/Brunell 1998) und so die europäische
Vernachlässigung von Gerichten als politische Akteure (Bellamy 2008; Rehder
2007) für den Bereich der europäischen Integration zu kompensieren vermocht.
Während die Rolle des EuGH als Integrationsmotor unbestritten ist, wird aber
die Entwicklung von Richterrecht durch den EuGH unterhalb der bahnbre-
chenden Urteile (wie Van Gend, Costa, Cassis, Keck, Francovich) vergleichswei-
se selten verfolgt. So existiert eine gesonderte Literatur zum EuGH, wie aber
das Richterrecht des EuGH mit dem durch die Legislative geprägten Integrati-
onsprozess verzahnt ist, wird kaum analysiert (siehe auch Dehousse 1998).
Die Bedeutung des EuGH für die alltägliche Integration wird sicherlich auch
vernachlässigt, weil sich die Politikwissenschaft wenig mit dem Binnenmarkt be-
fasst. Der Binnenmarkt ist zwar als »Herzstück« der Integration unbestritten,
wird aber verglichen mit einzelnen Politikfeldern wenig untersucht (Franchi-
no 2005). Gerade in der Binnenmarktpolitik ist Richterrecht jedoch kaum zu
übersehen, da die Grundfreiheiten und ihre Auslegung durch den Europäischen
Gerichtshof (EuGH) eine bestimmende Rolle spielen. Gleichzeitig hat der
Binnenmarkt erhebliche Auswirkungen auf andere Politikfelder, beispielswei-
se die Gesundheitspolitik, die Sozialpolitik (Leibfried 2005), den Umwelt- oder
Konsumentenschutz. Die Plicht, den freien Austausch von Waren, Dienstleis-
tungen, Kapital und Personen zu gewährleisten, konligiert potenziell mit den
unterschiedlichsten Sektorpolitiken.
Im Folgenden geht es darum, die Wechselwirkung zwischen judikativer und
legislativer Politik näher herauszuarbeiten, um damit auf einen wichtigen Aspekt
der aus der Spannung zwischen negativer und positiver Integration resultieren-
den Integrationsdynamik zu verweisen. Dabei wird judikative Politik in Analogie
zu exekutiver oder legislativer Politik als von der Judikative getroffene allgemein-
verbindliche Entscheidungen gefasst.
2 Der Kontext legislativer Politik
Positive und negative Integration, so das Argument des Aufsatzes, interagieren,
positive Integration ist oft eng verknüpft mit negativer Integration. Nun ist al-
lerdings der Anreiz zur gemeinsamen Re-Regulierung, der aus der einseitigen
Liberalisierung auf EU-Ebene folgt, ein in der Literatur seit Majone (1992) öf-
ters diskutiertes Thema. Indirekt setzen Liberalisierungsentscheidungen einen
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Anreiz zur Re-Regulierung. Nur in den seltensten Fällen wird es eine Option
sein, zuvor national hoch regulierte Sektoren direkt in einen unregulierten eu-
ropäischen Markt zu überführen. Insofern schafft sich die Kommission durch
Liberalisierungsvorschläge eine Basis, von der aus sie erfolgreich Vorschläge für
Re-Regulierung unterbreiten kann (Vogel 1996; Majone 1992; Young 1994).
Relativ vernachlässigt wird dagegen in der Literatur die unterschiedliche in-
stitutionelle Basis von positiver und negativer Integration. Die für die positive
Integration im Allgemeinen notwendige legislative gegenüber der für negati-
ve Integration meist ausreichenden judikativen Politik machen den Kern des
Scharpf’schen Arguments aus (Scharpf 2006: 854). Gäbe es diese institutionel-
len Unterschiede nicht, müsste man nicht von einem Ungleichgewicht zuguns-
ten der negativen Integration in der EU sprechen.
Stellt man die grundlegenden institutionellen Unterschiede zwischen posi-
tiver und negativer Integration heraus, bedeutet die in der Literatur breit an-
erkannte Wechselwirkung zwischen beiden Integrationsformen, dass legislative
Politik oft erst im Kontext der Rechtsprechung des EuGH verständlich wird.
Die im institutionellen Kontext der EU einfacher zu verwirklichende negative
Integration durch judikative Politik, so das Argument, strahlt auf die legislative
Politik aus, sodass letztere auch nur durch erstere verständlich wird. Die negative
Integration des EuGH beschreibt den Kontext, durch den viel der legislativen
Politik motiviert wird (bei der es sich sowohl um positive als auch um negative
Integration handeln kann). Wobei es im Folgenden nicht darum geht, ein sol-
ches Versäumnis der zahlreichen rein legislativen Studien konkret nachzuweisen
(für einen Überblick siehe Hörl/Warntjen/Wonka 2005), sondern vielmehr die
Verknüpfung legislativer mit judikativer Politik darzulegen.
Dafür sind mehrere Schritte notwendig. Zunächst wird gezeigt, wie der Zu-
gang zu judikativer Politik erfolgt. Dann wird am Beispiel der Warenverkehrs-
freiheit nachgezeichnet, wie sich die Rechtsprechung des EuGH verändert.
Darauf aufbauend wird die These entwickelt, dass die sich wandelnde Vertrags-
interpretation einen Kontext von Rechtsunsicherheit für die Mitgliedstaaten er-
zeugt. Je nach Interpretation dieser Rechtsunsicherheit ändert sich die Verhand-
lungsposition der Mitgliedstaaten, wie danach dargelegt wird. Dabei bezieht sich
Rechtsunsicherheit allein auf die mangelnde Fähigkeit, die Rechtsprechung vor-
herzusagen; weitere Aspekte wie Verfahrensrechte, die man unter der Frage von
Rechtssicherheit erörtert, werden ausgeklammert.
2.1 Der Zugang zu judikativer Politik
Wichtig für die Rolle judikativer Politik im Integrationsprozess ist zunächst die
Frage nach ihrer Initiierung. Von sich aus kann der EuGH nicht tätig werden,
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sondern ist darauf angewiesen, dass Fälle an ihn herangetragen werden. Ver-
schiedene Akteure haben unterschiedlich gute Möglichkeiten, den EuGH an-
zurufen, um auf diese Weise der in der judikativen Politik angelegten negativen
Integration zum Durchbruch zu verhelfen. 1
Die besten Zugangsmöglichkeiten hat die Europäische Kommission aufgrund
ihrer Rolle als Hüterin der Verträge und ihrer wichtigen exekutiven Rechte im
Bereich der Wettbewerbskontrolle. Als Hüterin der Verträge wacht die Kom-
mission über die Einhaltung des Europarechts durch die Mitgliedstaaten. Stellt
sie Verstöße fest, die in einem Vorverfahren mit einem Mahnschreiben der
Kommission und einer folgenden begründeten Stellungnahme nicht behoben
werden, ruft die Kommission in einem Vertragsverletzungsverfahren nach Art.
226 EGV 2 den EuGH an. Die Kommission verfolgt auf diese Weise Verstöße
zum einen gegen Sekundärrecht, also beispielsweise die mangelnde Umsetzung
von Richtlinien durch die Mitgliedstaaten, und zum anderen gegen Primärrecht,
was vor allem die Grundfreiheiten betrifft (von Waren, Dienstleistungen, Kapital
und Personen). Als Beispiel kann man hier das VW-Gesetz nennen, gegen das
die Kommission im März 2005 ein Vertragsverletzungsverfahren aufgrund von
Verstößen gegen die Kapitalverkehrs- und die Niederlassungsfreiheit einleitete,
das vom EuGH im Oktober 2007 weitgehend im Sinne der Kommission ent-
schieden wurde (C-112/05).
Ihre speziischen Kompetenzen im europäischen Wettbewerbsrecht erlau-
ben der Kommission zu intervenieren, wenn es entweder zu privaten Einschrän-
kungen des Marktmechanismus durch Kartelle (Art. 81 EGV) und den Miss-
brauch einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 82 EGV) oder zu staatlichen
Eingriffen in den Markt kommt. Zu letzterem gehört die Beihilfekontrolle (Art.
87–89 EGV) der Kommission ebenso wie die mögliche Untersagung der Verlei-
hung von Monopolrechten (Art. 86 EGV) (Wilks 2005). Gegen diese exekutiven
Maßnahmen steht der Rechtsweg vor die europäischen Gerichte offen; zunächst
zuständig im Bereich des Wettbewerbsrechts ist das Gericht erster Instanz. Ru-
fen die von den Maßnahmen der Kommission Betroffenen es an, erfolgt eine
juristische Klärung der Kompetenzen und insofern judikative Politik. Bleiben
Maßnahmen der Kommission unwidersprochen, wird die Anwendung des
Wettbewerbsrechts rein exekutiv gestaltet, es kommt also zu einer Verknüpfung
eventueller legislativer Maßnahmen mit zuvor erfolgter exekutiver Politik.
Mitgliedstaaten können ebenso wie die Kommission Vertragsverletzungsver-
fahren nutzen, um untereinander die Einhaltung europäischen Rechts sicherzu-
1 Hierbei gehe ich auf die empirisch relevantesten Verfahren ein und achte nicht auf juristische
Vollständigkeit.
2 Die Artikel des EGV beziehen sich auf die derzeit gültige Version von Nizza.
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stellen (Art. 227 EGV). Allerdings ist diese Möglichkeit kaum relevant, da Mit-
gliedstaaten sich in der Regel nicht gegenseitig beim EuGH der Versäumnisse
bezichtigen.
Viel relevanter sind private Akteure als Initiatoren judikativer Politik. Durch
den Vorrang und die direkte Wirkung des Europarechts können sie sich vor
nationalen Gerichten auf ihre europäische Rechtsposition beziehen. Existiert
in einem Fall noch keine etablierte Rechtsprechung, kann das nationale Gericht
den EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren (Art. 234 EGV) anrufen,
sonst wendet es Europarecht direkt an. Des Weiteren können sich private Ak-
teure auch bei der Kommission beschweren und darauf drängen, dass diese
ein Vertragsverletzungsverfahren beziehungsweise eine wettbewerbsrechtliche
Entscheidung gegen einen Mitgliedstaat beziehungsweise gegen das Verhalten
anderer privater Akteure anstrebt. Schließlich haben private Akteure die Mög-
lichkeit, eine Nichtigkeitsklage gegen Gemeinschaftsorgane anzustreben, wenn
sie durch deren Entscheidung unmittelbar, individuell und gegenwärtig betrof-
fen sind (Art. 230 EGV). Zuständig ist zunächst das Gericht erster Instanz.
Relevant ist dies vor allem bei wettbewerbsrechtlichen Entscheidungen der Eu-
ropäischen Kommission, auf die oben bereits eingegangen wurde. Ein Beispiel
ist hier die Klage von Microsoft gegen die von der Kommission 2004 getroffene
Entscheidung, dass das Unternehmen seine marktbeherrschende Stellung durch
die Integration des Mediaplayers sowie die fehlende Offenlegung von Daten sei-
nes Betriebssystems missbrauche. Das Gericht erster Instanz wies diese Klage
ab und Microsoft verzichtete darauf, Rechtsmittel beim EuGH einzulegen. 3
2.2 Rechtliche Interpretation im Wandel
Judikative Politik, die Interpretation und die Fortentwicklung des rechtlichen
Rahmens durch Gerichte, bildet in rechtsstaatlichen Gemeinwesen immer den
Hintergrund legislativer Politik. Fraglich ist also zunächst, warum dies in der EU
bemerkenswerter sein sollte als im nationalen Kontext. Verglichen mit der na-
tionalen Situation führt die schnell fortschreitende europäische Integration zu
einer kontinuierlichen Entwicklung der Rechtsprechung zur Reichweite des EG-
Vertrags. Zudem gestaltet dieser Vertrag primär eine Wirtschaftsverfassung, die
die Rechte von Marktsubjekten bestimmt. Über die Zeit lassen sich erhebliche
Veränderungen in der Interpretation des Vertrages durch den EuGH feststellen.
Der EuGH folgt bei seiner Interpretation vorwiegend der teleologischen Metho-
3 Siehe den Bericht der FAZ zum Urteil des Gerichts erster Instanz vom 17. September 2007
unter: < www.faz.net/s/RubE2C6E0BCC2F04DD787CDC274993E94C1/Doc~EF4A9742B
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