Kontrastive Grammatik Berndeutsch Standarddeutsch.pdf

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Kontrastive Grammatik Berndeutsch / Standarddeutsch
Einige ausgewählte Aspekte *
Gabriela Burri / Denise Imstepf (Bern)
Abstract
The analysis presented in the following is the result of a project-seminar on "Contrastive
grammar in Bernese German and High German" with Prof. Dr. Elke Hentschel, in which the
preliminary works for a comprehensive contrastive grammar were conducted. The two
authors exemplarily have analysed some questions. In the course of this analysis the
accusative and the genitive of nouns on the morphological level and the position of verbal
elements on the syntactic level have been focused on.
Starting from a primarily synchronic approach, the regularities of the above mentioned
linguistic aspects are, according to traditional grammar, presented in a contrasting way, both
for High German and Bernese German.
Die hier präsentierten Untersuchungen resultieren aus einem Projektseminar zum Thema
"Kontrastive Grammatik Berndeutsch/Hochdeutsch" bei Prof. Dr. Elke Hentschel, in dem
Vorarbeiten für eine umfassende kontrastive Grammatik durchgeführt wurden. Die beiden
Autorinnen haben sich exemplarisch mit einigen Fragestellungen auseinandergesetzt. Dabei
wurden im Bereich der Morphologie der Nomina der Akkusativ und der Genitiv, im Bereich
der Syntax die Stellung der verbalen Glieder im Satz als Untersuchungsgegenstände
ausgewählt.
Ausgehend von einem primär synchronen Ansatz werden die Regularitäten der oben
genannten Fragestellungen der traditionellen Grammatik folgend kontrastiv für das
Standarddeutsche und das Berndeutsche dargestellt.
1
Einleitung
Die hier präsentierten Untersuchungen zum Berndeutschen und Standarddeutschen entstanden
im Rahmen eines Projektseminars, in dem Vorarbeiten für eine umfassende kontrastive
Grammatik durchgeführt wurden. Die beiden Autorinnen haben sich exemplarisch mit einigen
Fragestellungen auseinandergesetzt. Dabei wurden im Bereich der Morphologie der Nomina
der Akkusativ und der Genitiv, im Bereich der Syntax die Stellung der verbalen Glieder im
Satz als Untersuchungsgegenstände ausgewählt.
Beim Berndeutschen handelt es sich primär um eine gesprochene Sprache. Der Sprachraum
lässt sich folgendermassen eingrenzen: "Das Berndeutsche bildet das Hauptgebiet des
Westschweizerdeutschen, zu dem auch der westliche Teil des Kantons Aargau, das
Solothurnische südlich des Jurafusses, der westliche Teil des Kantons Luzern (hauptsächlich
mit dem Entlebuch) und das Deutschfreiburgische gehören." (Marti 1985: 9) Eine detailiertere
Abgrenzung sowie eine Feingliederung ins Nord-, Mittel- und Südbernische (entspricht der
* Für die intensive Betreuung und die vielen Hinweise danken wir Prof. Dr. Elke Hentschel, Dr. Beat Siebenhaar
und Dr. Petra Vogel (Bern).
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geographischen Einteilung Seeland, Mittelland und Oberland) findet sich bei Hotzenköcherle
(1984: 193-225). Während sich in den Varietäten innerhalb dieses Sprachraumes phonetisch
einige Unterschiede beobachten lassen, weisen Syntax und Morphologie eine weitgehende
Homogenität auf. Deshalb haben wir darauf verzichtet, die einzelnen Varietäten zu
differenzieren. Wir selbst verfügen eher über eine mittelbernische Dialektkompetenz. Für die
berndeutsche Schreibung folgen wir der weiten Dieth-Schreibung (vgl. Dieth 1986).
Wir haben uns dafür entschieden, uns grob an die traditionelle Grammatik zu halten, da wir
der Meinung sind, dass spätere BenutzerInnen der Grammatik, die aus Entwürfen wie dem
vorliegenden hervorgehen könnte, am ehesten traditionelles grammatisches Vorwissen
mitbringen; auf diese Weise können auch Nicht-Spezialisten sich schnell zurechtfinden. Einen
anderen Zugang wählten Penner (1993) und Penner/Bader (1994), die aufgrund ihres X-bar-
Schema-Ansatzes eher ein linguistisch versiertes Publikum ansprechen. 1
Ziel dieser Arbeit war nicht eine Sammlung von möglichst vielen seltenen, urchigen und
archaischen Besonderheiten des Berndeutschen. SprachnostalgikerInnen mögen sich bitte z.B.
an Hodler (1969) und Marti (1985) halten.
Da alle SprecherInnen des Berndeutschen über mehr oder weniger gefestigte
Standardkenntnisse verfügen (Amtssprache ist Standarddeutsch), bietet sich eine kontrastive
Untersuchung durchaus an. "Die kontrastive Analyse geht davon aus, dass durch
Sprachvergleich zweier Sprachsysteme auf allen Ebenen und mittels des gleichen
grammatikalischen Modells Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen diesen Systemen
aufgedeckt werden können." (Rosenberg 1986: 44). Weiterführend wäre eine
fehlerlinguistische Analyse mit didaktischen Zielen, so wie Rosenberg (1986: 55) sie fordert,
durchaus wünschenswert. Ausgehend von der Fehlerdiagnostik konzipierten Ammon/Löwer
(1977) bereits ein Didaktikmodell für schwäbische SchülerInnen, die als Dialektsprechende
das Standarddeutsche erlernen sollen.
Bei der syntaktischen Untersuchung der Kasus sind wir von der standarddeutschen
Grammatik ausgegangen und haben untersucht, wie die entsprechenden Kasus im
Berndeutschen realisiert werden. Dieses Vorgehen hat den Vorteil, auf ein einigermassen
stabiles grammatikalisches Gerüst bauen zu können und eine gute kontrastive Darstellung zu
ermöglichen, birgt aber die Gefahr, möglicherweise gewisse berndeutsche Eigenheiten zu
übersehen.
Bei den Verbstellungen haben wir ausgehend von der Darstellung fürs Standarddeutsche bei
Hentschel/Weydt (1994: 382-386) anhand von berndeutschem Sprachmaterial (konstruierte
Beispielsätze sowie Material aus einer kleinen Umfrage) ein eigenes Modell für das
Berndeutsche entwickelt.
Trotz - oder gelegentlich auch: gerade wegen - eingehender Beschäftigung mit dem
Untersuchungsgegenstand sind wir immer wieder an Grenzen gestossen. Eine interessante
Erfahrung war der Verlust des Vertrauens in das eigene Sprachgefühl bei intensiver
metasprachlicher Reflexion. Dies hat uns immer wieder veranlasst, mehr oder weniger
formelle Umfragen zu starten und auszuwerten. Im weiteren Verlauf einer Untersuchung wird
es unabdingbar sein, mit einer breiteren Materialbasis zu arbeiten. Leider ist das vorhandene
Material (z.B. Hodler 1969 oder Marti 1985) veraltet und das Gewinnen einer aktuellen,
1 Mundartspezifische Aspekte der Syntax in verschiedenen Regionen der Schweiz werden ausserdem z. Z. im
Projekt Syntaxatlas der deutschen Schweiz (SADS) unter der Leitung von Elvira Glaser, Zürich, erfasst.
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breiten Materialbasis war im Rahmen dieser Vorarbeit zu aufwändig. Deshalb sahen wir uns
öfters gezwungen, die Erforschung gewisser Aspekte auszuklammern. Wir haben dies jeweils
mit einem "Agenda" - Eintrag in der Fussnote markiert.
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Die Kasus
2.1 Der Akkusativ
Entgegen der viel gehörten Aussage, es gebe im Berndeutschen (im Folgenden: Bdt;
Standarddeutsch im Folgenden: Std) keinen Akkusativ, sind wir der Meinung, dass es ihn
doch gibt. Wir behaupten, dass im Bdt die Deklinationsparadigmen des Substantivs für den
Nominativ und den Akkusativ zusammenfallen, nicht aber die Kasus an und für sich. Wir
werden dies im Weiteren belegen. 2
2.1.1 Das Akkusativobjekt
Zunächst sollen Fälle betrachtet werden, in denen der Akkusativ vom Verb regiert wird, also
Akkusativobjekte bzw. direkte Objekte. Im Berndeutschen gibt es ausser in Relikten im
Oberland (vgl. Bratschi / Trüb 1991: 13) keine morphologische Akkusativmarkierung für
Substantiv und Artikel 3 :
Std: Wir sehen den Hasen.
-
Der Hase sitzt hinter dem Busch.
Bdt: Mer gsee dr Haas.
-
Dr Haas hocket hinger em Busch.
Wenn wir uns aber dem Personalpronomen zuwenden, können wir folgendes feststellen
(Beispielsatz: 'ich sehe, du siehst etc. den Hund'/'der Hund sieht mich, dich etc.'):
Personalpron omen im Nominativ
Personal pronomen im Akkusativ 4
i
gsee
mi / mii (offenes i)
du
gseesch
di / dii (offenes i)
er|si|es
gseet
dr Hung
dr Hung gseet ne|se|s / in|sii/seie|ins
mer
gsee
(n)is / üs
dir
gseet
(n)ech / öich
si
gsee
se / sii/seie
Das berndeutsche Personalpronomen unterscheidet morphologisch Nominativ und Akkusativ.
Beide Kasus werden realisiert.
Zum Interrogativpronomen ist ergänzend anzumerken:
Im Standarddeutschen wird der Nominativ (d.h. das Subjekt bzw. der Gleichsetzungs-
nominativ) mit dem Interrogativpronomen wer erfragt, das Akkusativobjekt mit wen . Im
Berndeutschen lautet das Interrogativpronomen im Nominativ wär , im Akkusativ verhält es
sich etwas komplizierter. Sowohl wär als auch wän sind geläufig. Marti (1985: 106) und
Hodler (1969: 262) erwähnen beide wän als alte Form, die kaum noch anzutreffen ist. Unsere
2 Kasusabbau in der Mundart stellt keinen Einzelfall oder eine Besonderheit des Berndeutschen dar, sondern lässt
sich auch in anderen Dialekten beobachten. Zum Kasusabbau im Berlinerischen vgl. Rosenberg (1986).
3 Auch im Standarddeutschen kann der Akkusativ nicht immer anhand morphologigscher Merkmale erkannt
werden: eine Markierung ist nur noch bei Maskulina im Singular möglich.
4 Es steht jeweils die neutrale und die betonte Form.
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Beobachtungen geben aber Grund zur Annahme, dass v.a. durch Dialektsprechende mit
häufigem Kontakt zum Standarddeutschen wän durchaus wieder in den Wortschatz dringt.
Eine informelle Umfrage mit 10 Befragten lieferte folgendes Resultat: Je etwa die Hälfte der
Befragten braucht aktiv wär bzw. wän . Ausnahmslos alle bewerten wär als korrekt. Die
meisten stossen sich nicht an einem wän , eine Person reagierte darauf mit Skepsis.
2.1.2 DerGleichsetzungsakkusativ
Man trifft den Gleichsetzungsakkusativ im Std in Verbindung mit Verben des Benennens wie
nennen , heissen , schelten an. Im Berndeutschen werden z. B. diese drei Verben nicht
gebraucht. Nennen und heissen werden durch sagen ersetzt, auf das Verb folgen ein Dativ und
eine hier nicht bestimmbare Form (Nominativ/Akkusativ?):
Std: Wir nennen ihn den Rotschopf.
Bdt: Mer säge(n) im dr Rotschopf.
Bei transitiven Verben mit als oder für ( kennen als , mögen als , halten für ...), die es auch im
Bdt gibt, folgt zwar meist ein Substantiv, bei dem der Akkusativ morphologisch nicht
markiert werden kann:
Std: Wir kennen ihn als lebhaften Menschen.
Bdt: Mer kenne ne aus läbhafte Mönsch.
Std: Ich halte sie für eine Schnepfe.
Bdt: I haute se für(n) e Schnepfe.
Doch ein etwas konstruiertes Beispiel mit Personalpronomen zeigt, dass es sich tatsächlich
um einen Akkusativ handelt:
Std: Ich kenne ihn sonst nur als ihn selbst(, doch gestern hat er ein Schauspiel abgezogen).
Bdt: I kenne ne süsch nume aus in säuber(, aber geschter het er es Theater abzoge).
2.1.3 Akkusativ beim Adjektiv
Der zweite untersuchte Fall betrifft Akkusative, die von einem Adjektiv regiert werden, also
Objekte zweiten Grades.
Std: Ich bin ihm noch einen Franken schuldig.
Ich bin ihn ihm noch schuldig.
Bdt: I bi(n) im no(n) e Franke schuwdig.
I bi(n) im ne no schuwdig.
Die Ersatzprobe mit dem Pronomen zeigt, dass es sich eindeutig um einen Akkusativ handelt.
Der Akkusativ beim Adjektiv funktioniert im Berndeutschen gleich wie im
Standarddeutschen.
2.1.4 Akkusativ bei der Präposition
Zu unterscheiden sind Präpositionen, die immer einen Akkusativ verlangen, wie um , für ,
durch.
Std: um den Tisch ,
für die Mutter ,
durch das Haus
Bdt: ume Tisch 5 ,
für d Mueter ,
dür ds Huus
5 Kontraktion von um de bei Maskulina im Singular. Vgl. dazu Meyer (1967: 67) und SDS III, Tafel 137.
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Std: das Geschenk ist für ihn (den Vater)
Bdt: ds Gschänk isch für in (e Vatter)
Andere Präpositionen regieren einen Akkusativ, wenn sie gerichtet sind, ungerichtet hingegen
einen Dativ, so etwa: an , in , auf.
ungerichtet:
Std: im Wald sein ,
auf dem Pferd sitzen
gerichtet:
Std: an den Bruder denken ,
in das Haus gehen , auf das Pferd steigen
Bdt: a Brüetsch dänke 6 ,
i ds Huus gaa ,
uf ds Ross stige
Std: er denkt an ihn (den Bruder)
Bdt: er dänkt a ne (Brüetsch)
Die Ersatzprobe mit dem Pronomen zeigt, dass auch hier im Berndeutschen ein Akkusativ
vorliegt. Der Akkusativ bei Präpositionen funktioniert im Berndeutschen also ebenfalls gleich
wie im Standarddeutschen.
2.1.5 Der freie Akkusativ
Unter freien Akkusativen werden im Folgenden alle Fälle zusammengefasst, in denen der
Akkusativ von keinem anderen Element des Satzes abhängig ist (im Gegensatz etwa zum
Akkusativ, der von einer Präposition regiert wird). 7
Lokale und temporale freie Akkusative beantworten die Frage wie lange , sowohl auf die
zeitliche als auch auf die räumliche Ausdehnung bezogen. Man kann hier immer noch eine
ursprüngliche Funktion des Akkusativs (Kasus der Ausdehnung und Richtung) erkennen.
Std: Den ganzen Tag haben wir an dieser Grammatik geackert.
Bdt: Dr ganz Taag hei mer a där Grammatik gacheret.
Std: Den ganzen Heimweg bin ich gerannt.
Bdt: Dr ganz Heiwääg bi(n) i grennt.
Morphologisch ist im Berndeutschen nicht ersichtlich, ob es sich auch hier um einen
Akkusativ handelt. Eine Ersatzprobe ist nicht möglich.
Zwei Fakten sprechen aber dafür: erstens antwortet dieser Satzteil auch im Berndeutschen auf
die Fragen wi lang / wi läng (zeitlich/räumlich), zweitens können wir davon ausgehen, dass der
Akkusativ auch im Berndeutschen hier noch seine ursprüngliche Funktion als Kasus der
Ausdehnung erfüllt, losgelöst vom Verb.
6 Bei den Präpositionen in und an in Verbindung mit Maskulina im Singular fällt im Berndeutschen der Artikel
mit der Präposition zusammen. Zu dieser Form der Kontraktion vgl. Meyer (1967: 71) und SDS III, Tafel 138.
7 Auf eine weitergehende Unterscheidung von "absoluten" und "adverbialen" Kasus, wie sie in Grammatiken
gelegentlich vorgenommen wird (vgl. z. B. Duden 1998: 642-644), wird hier verzichtet.
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Bdt: im Waud sii ,
uf em Ross hocke
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