Goethe, Johann Wolfgang von - Wilhelm Meisters Lehrjahre -- Volume 2.txt

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Wilhelm Meisters Lehrjahre--Buch 2

Johann Wolfgang von Goethe




Zweites Buch

Erstes Kapitel

Jeder, der mit lebhaften Kraeften vor unsern Augen eine Absicht zu
erreichen strebt, kann, wir moegen seinen Zweck loben oder tadeln,
sich unsre Teilnahme versprechen; sobald aber die Sache entschieden
ist, wenden wir unser Auge sogleich von ihm weg; alles, was geendigt,
was abgetan daliegt, kann unsre Aufmerksamkeit keineswegs fesseln,
besonders wenn wir schon fruehe der Unternehmung einen uebeln Ausgang
prophezeit haben.

Deswegen sollen unsre Leser nicht umstaendlich mit dem Jammer und der
Not unsers verunglueckten Freundes, in die er geriet, als er seine
Hoffnungen und Wuensche auf eine so unerwartete Weise zerstoert sah,
unterhalten werden.  Wir ueberspringen vielmehr einige Jahre und
suchen ihn erst da wieder auf, wo wir ihn in einer Art von Taetigkeit
und Genuss zu finden hoffen, wenn wir vorher nur kuerzlich so viel,
als zum Zusammenhang der Geschichte noetig ist, vorgetragen haben.

Die Pest oder ein boeses Fieber rasen in einem gesunden, vollsaftigen
Koerper, den sie anfallen, schneller und heftiger, und so ward der
arme Wilhelm unvermutet von einem ungluecklichen Schicksale
ueberwaeltigt, dass in einem Augenblicke sein ganzes Wesen zerruettet
war.  Wie wenn von ungefaehr unter der Zuruestung ein Feuerwerk in
Brand geraet und die kuenstlich gebohrten und gefuellten Huelsen, die,
nach einem gewissen Plane geordnet und abgebrannt, praechtig
abwechselnde Feuerbilder in die Luft zeichnen sollten, nunmehr
unordentlich und gefaehrlich durcheinander zischen und sausen: so
gingen auch jetzt in seinem Busen Glueck und Hoffnung, Wollust und
Freuden, Wirkliches und Getraeumtes auf einmal scheiternd
durcheinander.  In solchen wuesten Augenblicken erstarrt der Freund,
der zur Rettung hinzueilt, und dem, den es trifft, ist es eine Wohltat,
dass ihn die Sinne verlassen.

Tage des lauten, ewig wiederkehrenden und mit Vorsatz erneuerten
Schmerzens folgten darauf; doch sind auch diese fuer eine Gnade der
Natur zu achten.  In solchen Stunden hatte Wilhelm seine Geliebte noch
nicht ganz verloren; seine Schmerzen waren unermuedet erneuerte
Versuche, das Glueck, das ihm aus der Seele entfloh, noch festzuhalten,
die Moeglichkeit desselben in der Vorstellung wieder zu erhaschen,
seinen auf immer abgeschiedenen Freuden ein kurzes Nachleben zu
verschaffen.  Wie man einen Koerper, solange die Verwesung dauert,
nicht ganz tot nennen kann, solange die Kraefte, die vergebens nach
ihren alten Bestimmungen zu wirken suchen, an der Zerstoerung der
Teile, die sie sonst belebten, sich abarbeiten; nur dann, wenn sich
alles aneinander aufgerieben hat, wenn wir das Ganze in
gleichgueltigen Staub zerlegt sehen, dann entsteht das erbaermliche,
leere Gefuehl des Todes in uns, nur durch den Atem des Ewiglebenden zu
erquicken.

In einem so neuen, ganzen, lieblichen Gemuete war viel zu zerreissen,
zu zerstoeren, zu ertoeten, und die schnellheilende Kraft der Jugend
gab selbst der Gewalt des Schmerzens neue Nahrung und Heftigkeit.  Der
Streich hatte sein ganzes Dasein an der Wurzel getroffen.  Werner, aus
Not sein Vertrauter, griff voll Eifer zu Feuer und Schwert, um einer
verhassten Leidenschaft, dem Ungeheuer, ins innerste Leben zu dringen.
Die Gelegenheit war so gluecklich, das Zeugnis so bei der Hand, und
wieviel Geschichten und Erzaehlungen wusst er nicht zu nutzen.  Er
trieb's mit solcher Heftigkeit und Grausamkeit Schritt vor Schritt,
liess dem Freunde nicht das Labsal des mindesten augenblicklichen
Betruges, vertrat ihm jeden Schlupfwinkel, in welchen er sich vor der
Verzweiflung haette retten koennen, dass die Natur, die ihren Liebling
nicht wollte zugrunde gehen lassen, ihn mit Krankheit anfiel, um ihm
von der andern Seite Luft zu machen.

Ein lebhaftes Fieber mit seinem Gefolge, den Arzeneien, der
ueberspannung und der Mattigkeit; dabei die Bemuehungen der Familie,
die Liebe der Mitgebornen, die durch Mangel und Beduerfnisse sich erst
recht fuehlbar macht, waren so viele Zerstreuungen eines veraenderten
Zustandes und eine kuemmerliche Unterhaltung.  Erst als er wieder
besser wurde, das heisst, als seine Kraefte erschoepft waren, sah
Wilhelm mit Entsetzen in den qualvollen Abgrund eines duerren Elendes
hinab, wie man in den ausgebrannten, hohlen Becher eines Vulkans
hinunterblickt.

Nunmehr machte er sich selbst die bittersten Vorwuerfe, dass er nach
so grossem Verlust noch einen schmerzenlosen, ruhigen, gleichgueltigen
Augenblick haben koenne.  Er verachtete sein eigen Herz und sehnte
sich nach dem Labsal des Jammers und der Traenen.

Um diese wieder in sich zu erwecken, brachte er vor sein Andenken alle
Szenen des vergangenen Gluecks.  Mit der groessten Lebhaftigkeit malte
er sie sich aus, strebte wieder in sie hinein, und wenn er sich zur
moeglichsten Hoehe hinaufgearbeitet hatte, wenn ihm der Sonnenschein
voriger Tage wieder die Glieder zu beleben, den Busen zu heben schien,
sah er rueckwaerts auf den schrecklichen Abgrund, labte sein Auge an
der zerschmetternden Tiefe, warf sich hinunter und erzwang von der
Natur die bittersten Schmerzen.  Mit so wiederholter Grausamkeit
zerriss er sich selbst; denn die Jugend, die so reich an eingehuellten
Kraeften ist, weiss nicht, was sie verschleudert, wenn sie dem Schmerz,
den ein Verlust erregt, noch so viele erzwungene Leiden zugesellt,
als wollte sie dem Verlornen dadurch noch erst einen rechten Wert
geben.  Auch war er so ueberzeugt, dass dieser Verlust der einzige,
der erste und letzte sei, den er in seinem Leben empfinden koenne,
dass er jeden Trost verabscheute, der ihm diese Leiden als endlich
vorzustellen unternahm.




II. Buch, 2. Kapitel




Zweites Kapitel

Gewoehnt, auf diese Weise sich selbst zu quaelen, griff er nun auch
das uebrige, was ihm nach der Liebe und mit der Liebe die groessten
Freuden und Hoffnungen gegeben hatte, sein Talent als Dichter und
Schauspieler, mit haemischer Kritik von allen Seiten an.  Er sah in
seinen Arbeiten nichts als eine geistlose Nachahmung einiger
hergebrachten Formen, ohne innern Wert; er wollte darin nur steife
Schulexerzitien erkennen, denen es an jedem Funken von Naturell,
Wahrheit und Begeisterung fehle.  In seinen Gedichten fand er nur ein
monotones Silbenmass, in welchem, durch einen armseligen Reim
zusammengehalten, ganz gemeine Gedanken und Empfindungen sich
hinschleppten; und so benahm er sich auch jede Aussicht, jede Lust,
die ihn von dieser Seite noch allenfalls haette wieder aufrichten
koennen.

Seinem Schauspielertalente ging es nicht besser.  Er schalt sich, dass
er nicht frueher die Eitelkeit entdeckt, die allein dieser Anmassung
zum Grunde gelegen.  Seine Figur, sein Gang, seine Bewegung und
Deklamation mussten herhalten; er sprach sich jede Art von Vorzug,
jedes Verdienst, das ihn ueber das Gemeine emporgehoben haette,
entscheidend ab und vermehrte seine stumme Verzweiflung dadurch auf
den hoechsten Grad.  Denn wenn es hart ist, der Liebe eines Weibes zu
entsagen, so ist die Empfindung nicht weniger schmerzlich, von dem
Umgange der Musen sich loszureissen, sich ihrer Gemeinschaft auf immer
unwuerdig zu erklaeren und auf den schoensten und naechsten Beifall,
der unsrer Person, unserm Betragen, unsrer Stimme oeffentlich gegeben
wird, Verzicht zu tun.

So hatte sich denn unser Freund voellig resigniert und sich zugleich
mit grossem Eifer den Handelsgeschaeften gewidmet.  Zum Erstaunen
seines Freundes und zur groessten Zufriedenheit seines Vaters war
niemand auf dem Comptoir und der Boerse, im Laden und Gewoelbe
taetiger als er; Korrespondenz und Rechnungen, und was ihm aufgetragen
wurde, besorgte und verrichtete er mit groesstem Fleiss und Eifer.
Freilich nicht mit dem heitern Fleisse, der zugleich dem Geschaeftigen
Belohnung ist, wenn wir dasjenige, wozu wir geboren sind, mit Ordnung
und Folge verrichten, sondern mit dem stillen Fleisse der Pflicht, der
den besten Vorsatz zum Grunde hat, der durch ueberzeugung genaehrt und
durch ein innres Selbstgefuehl belohnt wird; der aber doch oft, selbst
dann, wenn ihm das schoenste Bewusstsein die Krone reicht, einen
vordringenden Seufzer kaum zu ersticken vermag.

Auf diese Weise hatte Wilhelm eine Zeitlang sehr emsig fortgelebt und
sich ueberzeugt, dass jene harte Pruefung vom Schicksale zu seinem
Besten veranstaltet worden.  Er war froh, auf dem Wege des Lebens sich
beizeiten, obgleich unfreundlich genug, gewarnt zu sehen, anstatt dass
andere spaeter und schwerer die Missgriffe buessen, wozu sie ein
jugendlicher Duenkel verleitet hat.  Denn gewoehnlich wehrt sich der
Mensch so lange, als er kann, den Toren, den er im Busen hegt, zu
verabschieden, einen Hauptirrtum zu bekennen und eine Wahrheit
einzugestehen, die ihn zur Verzweiflung bringt.

So entschlossen er war, seinen liebsten Vorstellungen zu entsagen, so
war doch einige Zeit noetig, um ihn von seinem Ungluecke voellig zu
ueberzeugen.  Endlich aber hatte er jede Hoffnung der Liebe, des
poetischen Hervorbringens und der persoenlichen Darstellung mit
triftigen Gruenden so ganz in sich vernichtet, dass er Mut fasste,
alle Spuren seiner Torheit, alles, was ihn irgend noch daran erinnern
koennte, voellig auszuloeschen.  Er hatte daher an einem kuehlen
Abende ein Kaminfeuer angezuendet und holte ein Reliquienkaestchen
hervor, in welchem sich hunderterlei Kleinigkeiten fanden, die er in
bedeutenden Augenblicken von Marianen erhalten oder derselben geraubt
hatte.  Jede vertrocknete Blume erinnerte ihn an die Zeit, da sie noch
frisch in ihren Haaren bluehte; jedes Zettelchen an die glueckliche
Stunde, wozu sie ihn dadurch einlud; jede Schleife an den lieblichen
Ruheplatz seines Hauptes, ihren schoenen Busen.  Musste nicht auf
diese Weise jede Empfindung, die er schon lange getoetet glaubte, sich
wieder zu bewegen anfangen?  Musste nicht die Leidenschaft, ueber die
er, abgeschieden von seiner Geliebten, Herr geworden war, in der
Gegenwart dieser Kleinigkeiten wieder maechtig werden?  Denn wir
merken erst, wie traurig und unangen...
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