Psychologie heute - Magazin 2010 10.pdf

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Editorial 3
Gar nicht so schlecht –
bis jetzt!
Welches Musikstück würden Sie vom Musikkorps der Bundes-
wehr spielen lassen, wenn man Ihnen die seltsame Ehre ei-
nes Großen Zapfenstreiches antrüge? Ex-Bundespräsident
Horst Köhler wählte als Abschiedsmelodie den St. Louis Blues
– in dem eine untreue Frau vorkommt und auch die Zeile:
I hate to see the sun go down . Was natürlich zu naheliegen-
den Deutungen Anlass gab (Botschaft an Angela!). Exbundes-
kanzler Gerhard Schröder, Agenda-2010-Erfinder, wünsch-
te sich bei seinem Verabschiedungsritual Frank Sinatras
trotziges I did it my way . Wir wissen nicht wirklich, ob bei-
de Männer demonstrativ ein Motto für ihre politische Kar-
riere suchten oder ob sie eher einer situationsbedingten
Wehmut nachgaben. In jedem Fall haben sie an einem mar-
kanten Punkt ihrer Biografie einen wertenden Blick zurück
geworfen. Das tun wir alle gelegentlich, auch ohne Fackeln
und Trommelwirbel.
Grund, stolz auf sich zu sein. Wer erkennt, wie er aus miss-
lichen Lagen das Beste gemacht hat, schöpft daraus Selbst-
vertrauen für das Kommende.
Amerikanische Psychologen haben diese Haltung als con-
tender syndrome (Herausforderer-Syndrom) beschrieben:
Wenn Menschen sich selbst danach befragen, ob sie ihr vol-
les Potenzial, ihre Chancen und Talente ausgeschöpft haben,
kommen sie zu unterschiedlichen Schlüssen – je nachdem,
wen oder was sie als Maßstab wählen. Wer einer (selbst ent-
wickelten oder eingepflanzten) Idealvorstellung von sich nach-
jagt, ist in der Regel dauerfrustriert, und wer sich ständig mit
erfolgreicheren, glücklicheren oder klügeren „Siegertypen“
vergleicht, muss unzufrieden bleiben. „Herausforderer“ da-
gegen sind nicht neidisch auf die „Champions“. Sie geben ihr
Bestes, sie arbeiten an sich, aber sie vergleichen sich nicht so
sehr mit anderen als mit dem, was sie selbst für möglich
halten. Und dabei bleiben sie realistisch. Das erinnert an
die Typologie des Soziologen David Riesman, der bereits
1950 in seinem Buch Die einsame Masse den „innengeleite-
ten“, also von inneren Werten und Haltungen motivierten
Menschen vom „außengeleiteten“, sich fremden Maßstäben
unterwerfenden und auf äußere Anerkennung schielenden
Charakter unterschied. Letzterer sei in der Massengesellschaft
im Vormarsch, sagte Riesman voraus.
Manchen Amtsträgern mag Bullshit & Beschönigung so zur
Gewohnheit geworden sein, dass sie das auch auf ihre eige-
ne Biografie anwenden und selbst krummste Touren zu Grad-
linigkeit verklären. Die meisten Normalsterblichen neigen
indes dazu, bei Betrachtung des bisher Gelebten allzu kri-
tisch hinzugucken. Mit dunkel getönter Brille sehen sie auf
das, was versäumt, verpasst oder verspielt wurde. Diese Feh-
lerorientierung kann den mehr oder weniger großen Rest des
Lebens negativ beeinflussen, meint die Analytikerin Verena
Kast (Seite 20). Sie empfiehlt einen anderen, nämlich einen
positiv-selektiven Blick auf den zurückgelegten Lebensweg:
Was habe ich gut gemacht, was geleistet oder überwunden?
Wofür kann ich dankbar sein, für wen ist es wichtig, dass ich
da bin? Kast plädiert keineswegs dafür, die Niederlagen und
Verluste unter den biografischen Teppich zu kehren. Im
Gegenteil: Gerade weil vielleicht vieles verdrängt wurde, kann
sich Positives nicht so recht entfalten. Es kommt darauf an,
sich mit dem bisherigen Leben zu versöhnen, um Kraft für
die Zukunft zu gewinnen. Die Feststellung beispielsweise,
dass man auch schlechte Karten gut ausgespielt hat, ist ein
Entscheidend für Lebenszufriedenheit scheint also zu sein,
wie wir uns definieren, wo wir buchstäblich unsere Grenzen
ziehen. Bestimmen wir sie selbst, oder lassen wir sie uns vor-
geben? Wenn wir auf unser gelebtes Leben zurücksehen,
scheint ein realistischer, „innengeleiteter“ und gleichzeitig
nachsichtiger Blick sinn- und segensreich zu sein. Etwa so:
Alles in allem war es bisher gar nicht so schlecht. Und bes-
ser ging’s halt nicht!
(E-Mail: h.ernst@beltz.de)
PSYCHOLOGIE HEUTE Oktober 2010
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4 In diesem Heft
TITELTHEMA
Kraftquelle Biografie
Irgendwann, oft in der Mitte des Lebens,
stellt sich bei vielen Menschen Resigna-
tion ein: Die privaten und beruflichen
Ziele sind erreicht oder haben sich als un-
erreichbar erwiesen. Das Leben stagniert,
die Verlockungen der Zukunft sind lau
geworden. In dieser Situation ist es hilf-
reich, einmal die Blickrichtung zu ändern:
Eine Rückschau auf die eigene Biografie
hilft dabei, uns als Akteur unseres Werde-
gangs zu begreifen und die Freude am
Leben wiederzuentdecken.
20
VERENA KAST
Der Reichtum unseres Lebens
Wie die eigene Biografie zur Kraftquelle
werden kann
20
JOCHEN METZGER
Synästhesie: Ich seh etwas,
was du nicht siehst!
44
CHRISTINE ALTSTÖTTER-GLEICH
Ich will so gut sein, wie ich kann
HANNS-JOSEF ORTHEIL IM GESPRÄCH
„Wenn ich nicht schreibe,
geht es mir sehr schlecht“
60
28
ELISABETH BADINTER IM GESPRÄCH
„Das Bild der guten Mutter ist
der größte Feind der Fortpflanzung“
REGINE IGEL
Traumwelten
Federico Fellini und sein Psychoanalytiker
Ernst Bernhard
68
34
GABRIELE PASCHEK
Alles mit links
72
JOCHEN PAULUS
Computerspiele – die guten
40
HANS VON LÜPKE IM GESPRÄCH
„Kindesmisshandlung
ist ungeheuerlich,
aber nicht unbegreiflich“
76
PSYCHOLOGIE HEUTE Oktober 2010
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In diesem Heft 5
Ein Fest der Sinne
Sie riechen Zahlen, schmecken Namen, sehen Kreise,
wenn das Handy klingelt: Bei Synästhetikern sind die
Sinne auf faszinierende Weise miteinander verwoben.
Erst seit gut zwei Jahrzehnten wird das Phänomen er-
forscht. Inzwischen steht fest: Synästhesien sind verbrei-
teter, als lange angenommen, und sie werden von den
Betroffenen weit eher als bereichernd denn als
störend empfunden.
44
Der Drang zur Perfektion
Perfektionismus hat einen schlechten Ruf. Wer hohe
Anforderungen an sich stellt und sich stets das Beste
abverlangt, gilt als verbissen und freudlos. Psychologen
bescheinigen Perfektionisten einen Hang zu Zwängen,
Ängsten und Depressionen. Dabei sind hohe Leistungs-
ansprüche im Grunde nichts Schlechtes. Entscheidend
ist, ob dabei die Lust am Erfolg oder die Angst vorm
Versagen im Vordergrund steht.
60
8
Themen & Trends
Respekt am Arbeitsplatz: Eine seltene Erfahrung
Status: Rot gekleidete Männer imponieren Frauen
Anfeuerung: Wann Selbstgespräche motivieren
Hirnforschung: Langsam denken macht kreativ
Und weitere Themen
52
Gesundheit & Psyche
Brustkrebs: Ist Psychotherapie doch heilsam?
Risikogene: Das Wissen, an Krebs zu erkranken
Gesundheitssystem: Deutsche sind unzufrieden
Sex und Pfunde: Beleibte lieben leichtsinnig
Und weitere Themen
80
Buch & Kritik
Rubriken
6 Briefe
8 Themen & Trends
52 Gesundheit & Psyche
80 Buch & Kritik
91 Im nächsten Heft
92 Impressum
93 Markt
Altwerden: Vier Bücher über den letzten Lebensabschnitt
Gelungene Kommunikation: Eine Frage des Timings
Zerreißprobe: Wie Paare mit Depression umzugehen lernen
Mediation: Wenn zwei sich streiten, können beide gewinnen
Und weitere Bücher
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6 Briefe
E-Mail
k.brenner@ beltz.de
Bankrotterklärung
für die Psychologie?
(Titelthema: Das therapeutische Wissen der Reli-
gionen. Heft 7/2010)
Danke an Ihr Magazin für den sehr auf-
schlussreichen Artikel! Ich kann hier auf-
grund eigener Erfahrung bestätigen, dass
der christliche Glaube eine sehr tiefge-
hende therapeutische Wirkung hat. Nach
mehreren Jahren beruflicher Tätigkeit in
islamischen Ländern fand ich nach ei-
ner Krise zurück zum christlichen Glau-
ben. Ein Glaube, der aufgrund der ge-
waltigen Botschaft des Evangeliums nicht
nur aus der Krise heraushalf, sondern
mir täglich aufs Neue eine Lebensqua-
lität bietet, die ich vorher nie erwartet
hätte. Seien wir mal ganz nüchtern: Et-
liche therapeutische Erkenntnisse, die
heute Anwendung finden, wurden schon
vor 2000 Jahren von Jesus angewendet.
Es ist schade, dass in unserer Gesellschaft
der christliche Glaube von Vielen als
„überholt“ belächelt wird. Nicht nur in
der Therapie, sondern in Hinsicht auf
die gewaltigen Herausforderungen der
Zukunft von Umwelt, Finanzkrise bis hin
zur Globalisierung kann der biblische
Glaube eine große Hilfe sein.
Erwin Chudaska, Rödermark
Mit großem Interesse habe ich diesen
Artikel gelesen und bin doch sehr er-
staunt über die Feststellung: „Die christ-
liche Religion skizziert zwar einen ethi-
schen Kanon, wie Menschen denken und
fühlen sollten, sie zeigt aber keinen Weg
auf, wie dieser Zustand erreicht werden
könnte.“ Das ganze Neue Testament
dreht sich genau um diesen einen Punkt,
wie man dies erreichen kann. Eine pla-
kative Antwort dazu ist Johannes 14,6:
„Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg
und die Wahrheit und das Leben; nie-
mand kommt zum Vater denn durch
mich.“
Nun wäre die konsequente Umset-
zung dieses Weges sicherlich die Ban-
krotterklärung für jede Richtung der
Psychologie, und insofern ist es natür-
lich verständlich, dass er als Möglich-
keit ausscheiden muss, wenn man sich
lediglich in Baukastenart einiger Mög-
lichkeiten der Religiosität bedienen
möchte. Dennoch ist die Aussage sach-
lich falsch. Das soll ausdrücklich kein
Anlass zum Streit zwischen Religionen
und Psychologie sein, man sollte meiner
Meinung nach nur immer versuchen,
das System als Ganzes zu sehen.
Peter Schaefer, Aachen
Ich konnte erst vergeben, als ich zum
Glauben an Jesus Christus kam und auch
die von Ihnen zitierten Verse aus der Bi-
bel verinnerlichte. Auch der Hinweis, mit
Dankbarkeit auf das im Leben Geleiste-
te zurückzublicken, ist für alle seelisch
Kranken eine gute Hilfe.
Heinrich Palitsch, Oldenburg
Die Autoren der amerikanischen Unab-
hängigkeitserklärung wussten genau,
warum die Trennung von Staat und Re-
ligion ein wichtiger Teil dieser Erklärung
wurde. Albert Ellis‘ und Sigmund Freuds
Ablehnung von Religion in der Psycho-
logie sind gut begründet. Beides, Psycho-
logie und Religion, sind sehr ungenaue,
noch zu entwickelnde „Wissenschaften“,
die, zusammengelegt, noch unglaub-
würdiger werden können. Wenn man
Religion Philosophie nennen könnte, ist
der Buddhismus die einzige glaubwür-
dige und menschennahe Philosophie. Es
gibt viele Schriften gegen die existieren-
den Religionen, gegen das Vorhanden-
sein „Gottes“. Ein Buch, geschrieben auf
Französisch vor 300 Jahren von „Un-
bekannt“, mit dem Titel Traktat über
die drei Betrüger („Traité des trois im-
posteurs“) beschreibt drei Männer als
PSYCHOLOGIE HEUTE Oktober 2010
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