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Schatten der Erinnerung

Brenda Joyce

Schatten der Erinnerung

SECRETS

Prolog

Sommer 1899

»Und Sie, Mylady? Werden Sie es Ihrer Schwester gleichtun und auch einen Duke heiraten?«

Regina lächelte ein wenig. »Das bezweifle ich, Mrs. Schroener. Meiner Schwester ist mit dieser Heirat etwas ganz Außergewöhnliches gelungen, denn im allgemeinen heiratet man innerhalb seiner eigenen Gesellschaftsschicht.«

»Aber Ihr Vater ist doch ein Earl.«

Regina blickte aus dem Zugfenster auf die vorbeiziehende Landschaft mit den sonnenverbrannten, sattelförmigen Hügeln, die sich gegen den Himmel abzeichneten. »Ein Earl steht im Rang unter einem Duke.« Sie dachte an ihre letzte Zusammenkunft mit den Eltern, bevor sie aus Texas abgereist war. Dabei hatte sie ihnen gesagt, dass sie noch nicht mit ihnen nach Hause zurückfahren würde. Der Earl von Dragmore war darüber gar nicht erfreut gewesen, aber er hatte ihr erlaubt den Aufenthalt in Amerika bei ihren Verwandten zu verlängern. Reginas Herz zog sich zusammen. Sie wollte nicht mit ihrer übrigen Familie nach Hause fahren, weil ihr ehemaliger Verehrer, Lord Hortense, dort weilte. Er war jetzt mit einer anderen verlobt nachdem ihr Vater ihn so nachdrücklich abgelehnt hatte.

»Eine Schönheit wie Sie - ich bin sicher, Sie könnten jeden Mann haben, den Sie wollten«, verkündete Mrs. Schroener enthusiastisch, während sie mit ihrem Schützling am Fenster stand.

»Vater wird einen Mann für mich aussuchen, wenn ich wieder zu Hause bin«, sagte Regina leise. Sie und ihre Begleiterin befanden sich im Clubwagen der Southern Pacific Railroad's Coast Line, zusammen mit mehreren anderen Passagieren der ersten Klasse. Die meisten von ihnen waren Gentlemen, die in Gespräche vertieft waren oder ihre Zeitung lasen. Regina wollte nicht, dass jemand ihre Worte mitbekam.

Mrs. Schroener machte große Augen. »Er wird was?«

Regina brachte ein Lächeln zustande, denn es wäre ihr unangenehm, wenn die freundliche alte Witwe erfahren würde, wie sehr ihr vor der Zukunft graute. Immer noch liebte sie Randolph Hortense. Aber daraus würde nichts werden, denn sie konnte sich nicht gegen ihres Vaters Wunsch auflehnen. Im Gegensatz zu ihrer Schwester Nicole fehlte ihr jedes Talent zur Rebellin- Auch war sie nicht mehr achtzehn Jahre alt. Jetzt käme sie gerade rechtzeitig zum Beginn ihrer dritten Ballsaison nach Hause. Wenn sie dann tatsächlich wieder daheim wäre, würde ihr Vater ihr eine Liste mit Kandidaten präsentieren, die als Ehemänner in Frage kämen, und sie müsste sich für einen von ihnen entscheiden.

»Wollen Sie damit sagen, dass in England immer noch Ehen arrangiert werden? Dass Ihr Vater einen Ehemann für Sie aussuchen wird?«

»So ist es doch am besten«, hörte sich Regina sagen.

»Aber nehmen Sie doch Ihre Kusine Lucy! Niemand wäre jemals auf den Gedanken gekommen, sie mit diesem Shoz Savage zu verheiraten, und sehen Sie, wie glücklich sie ist. Ich habe alles über ihre Hochzeit im letzten Monat gelesen. Es war die Hochzeit des Jahrhunderts, heißt es. Das ist doch wahre Liebe!«

Regina lächelte. »Es war wirklich ein besonderes Ereignis.« Wegen dieser Hochzeit war sie mit ihrer Familie nach Texas gekommen. Das hatte Regina die perfekte Entschuldigung geliefert, England - einschließlich Lord Hortense und seiner Verlobten - zu entfliehen.

»Auch für Sie wird es bald eine solche Hochzeit geben, meine Liebe. Da Sie adelig sind, könnte ich sie mir noch größer und prachtvoller vorstellen.«

Regina murmelte mit einem wehmütigen Lächeln: »Ganz bestimmt.« Dabei dachte sie aber nicht an eine spektakuläre Hochzeitszeremonie, sondern an Liebe. Eine Liebe, die ihr hätte gelten können, wenn ihr Vater nicht dagegen gewesen wäre. Randolph war kein Glücksritter, sagte sie sich nicht zum ersten Mal. Freilich hatte das jetzt keine Bedeutung mehr, da er kurz vor der Hochzeit mit einer anderen stand. Genau wie sie würde er seine Pflicht den Eltern gegenüber erfüllen.

Der Zug schien langsamer zu werden.

»Wir müssten bald in Paso Robles sein«, meinte Mrs. Schroener und sah aus dem Fenster. »Ich denke, dass ich mir diese berühmten Schlammbäder gönnen werde, bevor ich nach Texas zurückkehre.«

»Das sollten Sie wirklich tun«, stimmte Regina zu. »Nach Aussage meiner Tante und meines Onkels ist das Hotel EI Paso de Robles eines der größten Kurzentren hier an der Küste.« Sie wollte die D'Archands dort treffen. Nach einem langen, erholsamen Wochenende würden sie nach San Francisco hinauffahren, wo sie lebten. Regina beabsichtigte, dort den Rest des Sommers mit ihnen zu verbringen, da sie von Texas genug hatte. Im September jedoch ließe sich das Unvermeidbare nicht länger aufschieben: Sie würde nach Hause zurückfahren und ihrer Zukunft ins Auge blicken müssen.

Regina hatte die schweren goldfarbenen Samtvorhänge geöffnet, um die Landschaft betrachten zu können. Sie fuhren durch hügeliges Land, in dem das wilde Gras von der Sommersonne derart ausgedörrt war, dass es eine zitronengelbe Farbe angenommen hatte. Im Kontrast dazu standen dichte, saftig grüne Eichen über die sanft abfallenden Hügeln verstreut und der Himmel hatte eine unglaublich blaue Farbe. Ab und zu konnte sie einen Blick auf das ausgetrocknete Bett des Salinas River werfen, der sich neben ihnen dahin schlängelte. Regina empfand die Landschaft zwar als rauh, doch atemberaubend in ihrer schier unermesslichen Weite.

»Jemand, der so schön und reizend ist wie Sie, verdient einen Prinzen«, erklärte Mrs. Schroener, die einfach nicht von ihrer romantischen Art lassen konnte oder wollte.

Regina lächelte schwach. Ihr kam es so vor, als sei der Zug jetzt tatsächlich langsamer geworden. »Warum fahren wir langsamer?« Sie langte in ihr Handtäschchen und förderte einen abgegriffenen Zugfahrplan zutage. Vor zwanzig Minuten erst hatten sie in Santa Margarita angehalten, und dem Fahrplan nach dürfte der Zug jetzt nur stoppen, wenn ihn jemand anhielte. »Die nächste Station ist Templeton, aber dafür ist es noch zu früh. Danach kommt Paso Robles.«

»Wahrscheinlich will ein Farmer mitgenommen werden«, meinte Mrs. Schroener. »Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.«

Regina dachte, dass ihre Begleiterin recht habe, und wollte gerade zögernd wieder Platz nehmen, als sie ein Pistolenschuss davon abhielt.

Ihr Herz setzte fast aus, und sie rang nach Luft. Der Knall des Schusses hallte nach. Er war in einem der anderen, möglicherweise dem nächsten Wagen abgefeuert

worden, aus dem sie nun Schreie und angstvolles Weinen hörte.

Mrs. Schroener packte ihre Hand. Ein weiterer Schuss fiel. Die Schießerei fand zweifellos in dem Wagen hinter ihnen statt. Aus dem hysterischen Tumult dort drang das Weinen eines Babys.

Lieber Gott! dachte Regina verzweifelt. Ein Raubüberfall!

Chaos brach im Clubwagen aus. Die Männer sprangen auf und liefen umher, die Frauen waren blass geworden und zitterten vor Angst. Aus dem anderen Wagen krachte ein weiterer Schuss, und ein langgezogener, schriller Aufschrei einer Frau war zu hören, wie ihn Regina niemals zuvor vernommen hatte. Ihr war bewusst, dass nur panische Angst und Schmerz ihn verursacht haben konnten.

In diesem Augenblick stürmte ein Mann mit einer Maske vor dem Gesicht und einem großen Revolver in den Clubwagen. Er schrie: »Niemand rührt sich! Keine Bewegung! Wer nicht stillhält, wird erschossen!«

Regina und Mrs. Schroener standen am anderen Wagenende, alle übrigen Passagiere befanden sich zwischen ihnen und dem Banditen. Regina fröstelte. Sie konnte nicht glauben, was da vor sich ging.

Alle gehorchten dem maskierten Bewaffneten und verharrten regungslos. Die Frauen schluchzten, und auch einer der Männer brach in Tränen aus. Mit roher Gewalt griff der Bandit nach der Person, die ihm am nächsten stand, einer jungen Frau, und riss ihr die Ohrringe herunter. Sie schrie auf, woraufhin der Mann sie ohrfeigte. Regina sah, wie sie gegen die Wand fiel und zusammenbrach. Blut befleckte ihre hübsche, rosaweiß gestreifte Jacke.

Der Bandit beugte sich über sie und riss auch ihre Halskette an sich. Weinend lag die Frau am Boden.

»Vielleicht nehmen wir dich mit«, grinste der Bandit. Auf ihr Schluchzen hin lachte er nur, dann reckte er sich zu gewaltiger Größe empor. Er wandte sich dem Gentleman zu, der ihm am nächsten war, und zerrte einen Geldbeutel aus dessen Hosentasche. Dann ergriff er dessen Taschenuhr.

Als Schock und Fassungslosigkeit nachließen, erbebte Regina. Sie waren Opfer eines Raubüberfalls, der mit entsetzlicher Gewalt vonstattenging. Die Drohung des Banditen gegen die junge Dame klang ihr noch in den Ohren. Sie vermochte kaum zu denken, war wie benommen und starr vor Schreck. Sie bemerkte, dass sich die Tür, die zu der Plattform zwischen diesem Wagen und dem davor führte, dicht hinter ihr befand. Waren auch in diesem Wagen Banditen? Geräusche hatte es von dort noch nicht gegeben. Aber auch wenn dort bisher keine Verbrecher waren, sie würden bald - zweifellos waren es mehrere - eindringen. Reginas Herz hämmerte.

Der Bandit sah sich kurz im Clubwagen um. Dabei blieb sein Blick auf Regina haften, und sie sahen einander für einen Augenblick an. Als er daran ging, das dritte Opfer, einen jungen Mann, auszurauben, spürte Regina, wie Panik über sie kam. Sie zitterte. Herabperlender Schweiß nahm ihr fast die Sicht. Sie sah, wie der Räuber seine Pistole erhob und damit auf den protestierenden Gentleman einschlug. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, und sie unterdrückte einen Wehlaut als der Bandit eine Brieftasche einsteckte und sich dem nächsten Passagier zuwandte. Da wartete sie nicht ab, was weiter geschehen würde.

Sie drängte sich hinter Mrs. Schroener, die einen Schreckensschrei ausstieß. Dann rannte sie die drei Stufen bis zur Tür. Auch ohne sich umzublicken, wusste sie, dass er sie gesehen hatte.

»Halt!« schrie er.

Aber Regina beachtete ihn nicht. Angsterfüllt packte sie den Eisenriegel, zog die schwere Tür auf und stolperte auf die Plattform. Ein Schluchzer entfuhr ihr, als sie

merkte, wie schnell der Zug immer noch fuhr, denn sie würde abspringen müssen. Wieder krachte ein Schuss, dieses Mal dicht hinter ihr. Er schoss auf sie! Sie schrie und hangelte sich zu dem Geländer gegenüber. Eine letzte Sekunde lang sah sie auf den harten Boden, der tief unter ihr vorbeiraste. Ohne einen weiteren Gedanken stürzte sich Regina vom Zug hinab.

TEIL I

Geheimmisse

Kapitel 1

»Können Sie mich hören?«

Es herrschte eine brütende, drückende Hitze, und sie war durstig, ihr Mund völlig ausgedörrt. Ihre Zunge fühlte sich geschwollen und taub an. Wie aus weiter Ferne hörte sie die Worte.

»Sind Sie verletzt?« Seine Stimme klang eindringlich und besorgt. Aber sie wollte sich keine Mühe geben, die dunklen Tiefen des Schlafes zu durchdringen, und fragte sich nur, ob sie wohl träume.

»Können Sie mich hören?« Seine Worte klangen jetzt lauter, eindringlicher und störten sie. Sie wünschte, dass alles nur ein Traum wäre und er verschwände, um wieder in die totale Dunkelheit versinken zu können.

Aber es war kein Traum. Von dem Augenblick an, als er sie berührte, wusste sie das. Er rüttelte sie leicht an der Schulter. Sie wollte widerstrebend aufschreien, ihm sagen, er solle fortgehen, aber sie brachte die Worte nicht heraus. Da berührte er ihren Kopf und fuhr mit den Fingern über ihre Kopfhaut. Nun fühlte sie den Schmerz. Der Vorhang der Dunkelheit war unvermittelt aufgerissen.

Noch bevor sie protestieren konnte, hatte er ihr behände die Jacke aufgehakt und geöffnet. Die Abkühlung brachte ihr kaum Erleichterung. Dann knöpfte er den hochgeschlossenen Kragen ihres Hemdblusenkleides auf, und dabei streiften seine Fingerspitzen ihren Nacken. Als ob er nicht schon weit genug vorgedrungen wäre, glitten seine Hände tastend über ihre Schultern und Arme und streiften dann ihre Brüste, was sofort ihre Brustwarzen hart werden ließ. Bei seinem Bemühen, jeden einzelnen Knochen in ihrem Brustkorb zu untersuchen, schien er das jedoch nicht zu bemerken.

Regina war starr vor Furcht. Hellwach jetzt, nahm sie das Hämmern in ihrem Kopf wahr, die fürchterliche Hitze, den gnadenlosen Durst. Sie bemerkte auch, dass sie auf dem Boden lag. Zudem war sie sich seiner Gegenwart deutlich bewusst. jetzt berührte er ihre Beine. Mit den Handflächen glitt er von den Knöcheln zu den Schenkeln hinauf. Nur eine dünne Seidenschicht trennte seine Haut von der ihren. Die Tatsache, dass dies irgendwie ein beunruhigend angenehmes Gefühl war, drang in ihr furchtbenebeltes Hirn.

Sie lag starr da und wagte kaum zu atmen.

»Sie können jetzt aufhören, Opossum zu spielen. Ich weiß, dass Sie wach sind.«

Ein Atemzug entrang sich ihr, und ganz langsam öffnete sie die Augen.

Er breitete die Röcke wieder über ihre Beine, erhob sich und baute sich vor ihr auf. Da er mit dem Rücken zur Sonne stand, konnte sie ihn fast nicht erkennen. Wie ein

dunkler Schatten zeichnete er sich bedrohlich über ihr ab. Verwirrung stieg heftig in ihr auf. Wo war sie? Ein rascher Blick in ihre Umgebung belehrte sie, dass sie sich, abgesehen von einem gesattelten Pferd, allein mitten in einem Tal befanden, das von sanften strohfarbenen Hügeln eingerahmt war, mit einem gnadenlos blauen Himmel darüber. Sie richtete sieh auf, wobei ihr für einen Moment schwindlig wurde.

Sofort kauerte er sich neben sie und legte den Arm um ihre Schultern, um sie vor dem Hinfallen zu bewahren. Sein Körper war heiß, heißer noch als die Luft. Nachdem ihr Kopf aufgehört hatte, verrückt zu spielen, trafen sich ihre Blicke und verweilten ineinander.

Sie sah nur seine dunklen, eindringlichen, dicht bewimperten Augen. Sein Hut beschattete sie so stark, dass sie schwarz erschienen. Aber sie war doch fassungslos und blickte weg. Er drückte eine Feldflasche an ihren Mund, und sie trank mit heftigen langen Zügen, ohne darauf zu achten, dass sie Wasser auf ihren Hals und ihre Bluse verschüttete.

»Langsamer«, sagte er. »Sonst wird Ihnen schlecht.«

Ohne sie zu fragen, nahm er ihr die Flasche genauso unvermittelt weg, wie er sie ihr gegeben hatte. Geschmeidig erhob er sich zu voller Größe. Die Sonne war hinter eine dünne weiße Wolke geschlüpft, und so konnte Regina ihn jetzt sehen. Als erstes nahm sie seine Beine wahr, die in engen, abgetragenen Jeans steckten. Fest und breitbeinig stand er da. Die Muskeln seiner Schenkel waren durch das dünne, verblichene Gewebe sichtbar. Die Fäuste hielt er an seine schmalen Hüften gestemmt. Er trug eine Pistole in einem Lederhalfter bei sich, der, bis auf den groben Riemen um seine Schenkel, vom häufigen Gebrauch weich und glänzend geworden war. Ihr Magen zog sich zusammen. Einen Mann mit Pistole zu sehen war für sie ungefähr genauso alltäglich, wie aufzuwachen und sich allein auf weiter Flur mit einem Fremden wiederzufinden.

Sie hatte auch seine übergroße, ovale silberne Gürtelschnalle entdeckt der eine gründliche Politur gutgetan hätte. Dass sein weißes Baumwollhemd schweißnass war und fast bis zum Bauchnabel offenstand, fiel ihr ebenfalls auf. Seine Haut war dunkel, der kräftige Brustkorb mit kräftigem schwarzem Haar bedeckt, sein Bauch flach. Als ihr klar wurde, dass er nur halb bekleidet war und sie ihn so ausgiebig betrachtete, überzog sich ihr Gesicht mit flammender Röte. Rasch sah sie zu ihm hoch, nahm jedoch dabei viele weitere Details wahr. Seine aufgerollten Ärmel machten die muskulösen Unterarme sichtbar. Trotz der Hitze hatte er eine von Sonne, Wind und Regen ausgeblichene schwere Weste an, die er nachlässig offen trug.

Sie musste seine markanten Gesichtszüge mit dem ausgeprägten Kinn, der wohlgeformten Mundpartie und der vollkommenen, geraden Nase betrachten. Er trug einen Eintagesbart. Seine Augen waren immer noch von dem staubgrauen Hut beschattet so dass sie ihre Farbe nicht erkannte.

Wieder begegneten sich ihre Blicke. Die seinen enthüllten nichts, sie jedoch spürte ihr Herz schneller schlagen.

Dieser Mann sah wie ein Bandit aus, und sie war offenbar allein mit ihm - absolut allein. War er ein Bandit? Wollte er ihr etwas antun?

Er durchschaute ihre Gedanken. »Haben Sie keine Angst«, beruhigte er sie. »Mein Name ist Slade Delanza.«

Sie hatte den Eindruck, als ob er von ihr erwartete, ihn zu kennen, was aber nicht der Fall war. »Was ... was wollen Sie?«

Er blickte sie durchdringend an. »Ich habe den ganzen Nachmittag nach Ihnen gesucht, alle machen sich Sorgen. Sie haben eine große Beule am Kopf und ein paar

Abschürfungen.«

Trotz der Frage, die in seinen Worten lag, überkam sie Erleichterung. Sie kannte diesen Mann nicht, aber sie begriff, dass er hier war, um ihr zu helfen, nicht um ihr ein Leid anzutun.

»Was ist geschehen?«

Seine Frage kam überraschend, und sie musste unwillkürlich blinzeln.

»Ich habe gehört, dass Sie aus dem Zug gesprungen sind. Ihre Hände und Knie sind aufgeschürft.« Seine Stimme klang auf einmal sehr bestimmt.

Sie blickte ihn jetzt an.

»Sind Sie verletzt?« Regina konnte nicht antworten, und es fiel ihr schwer zu atmen. Ihr Verstand funktionierte nicht so, wie er sollte. Er kauerte sich wieder neben sie. Die Sonne war noch nicht hinter der Wolke hervorgekommen. Sein vollendetes Gesicht war dem ihren nah, und sie musste sich eingestehen, dass sie ihn sehr attraktiv fand. Damit konnte sie sich aber nicht beschäftigen, solange er ihr diese beängstigenden Fragen stellte und sie von seinen intensiven Blicken. regelrecht zermürbt wurde. »Sind Sie verletzt?« fragte er wieder.

Mit ausdrucksloser Miene starrte sie ihn an, und plötzlich brach sie in Tränen aus, die ihr den Blick verschleierten.

Er blickte sie auf eigenartige Weise an, Es gelang ihr, den Blick von ihm abzuwenden, und sie drehte sich weg, um die Eisenbahnschienen zu betrachten, die sich endlos zu den Hügeln zogen, bis sie dort verschwanden. Sie erschauerte.

Er gab sich Mühe, einen milderen Ton anzuschlagen. »Brauchen Sie einen Arzt?«

Noch so eine besorgniserregende Frage. Er erregte sie nicht nur, sondern trieb sie in die Enge, stellte ihr eine Falle, und das missfiel ihr. Überallhin wollte sie sehen, nur nicht zu ihm, doch sie war seinem Blick hilflos ausgeliefert. Sie wollte seine entsetzlichen Fragen nicht beantworten. »Ich weiß nicht.« Zögernd setzte sie hinzu: »Ich glaube nicht.«

Er musterte sie, dann feuerte er die nächste Frage mit der Präzision eines Armeeschützen ab. »Was meinen Sie damit: Sie glauben nicht?«

Da schrie Regina: »Bitte, hören Sie auf!«

Seine Hände schlossen sich hart, aber nicht schmerzhaft um ihre Schultern. »Das hier ist keine nette Privatschule für junge Ladies! Wir sind hier nicht in London auf einer Teeparty! Dies ist die verdammte reale Welt! Alle waren hysterisch in diesem Zug, der gerade noch die Strecke bis zur Stadt geschafft hat. Ein halbes Dutzend Passagiere war verletzt, darunter auch eine Frau, und Sie waren nicht mehr drin! Mehrere Passagiere sahen, wie Sie vom Zug abgesprungen und, unsanft aufgeschlagen sind. Wenn Sie mir nicht erzählen wollen, was geschehen ist dann können Sie mit dem Sheriff oder dem Arzt sprechen, wenn wir nach Templeton kommen!«

»Ich weiß nicht, was passiert ist!« schrie sie zurück. Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, da packte sie Entsetzen, denn plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie der Wahrheit entsprachen.

Er blickte sie scharf an.

Sie wimmerte, als sie die ungeheure Tragweite ihrer Worte zu begreifen begann.

»Was haben Sie da gesagt?«

»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie, schloss die Augen und suchte am harten Boden Halt. Sie wusste wirklich nichts über einen Zug oder einen Raubüberfall, hatte keine Ahnung, warum ihre Handschuhe zerrissen waren und ihre Hände aufgeschürft, und sie wusste auch nicht warum es sie mutterseelenallein mitten in das riesige, verlassene Weideland verschlagen hatte. Da sie sich auch nicht erinnern konnte.. aus einem Zug gesprungen zu sein, überkam sie erneut Angst.

»Haben Sie keine Erinnerung an das, was passiert ist?«

Noch immer hielt sie ihre Augen geschlossen. Es war noch schlimmer, aber sie hatte Angst, auch nur sich selbst, gegenüber einzugestehen, um wie viel schlimmer. Also saß sie da und versuchte, seine Worte zu überhören und an nichts zu denken.

»Verdammt, Elizabeth«, knurrte er. »Erinnern Sie sich nicht, was geschehen ist?«

Da kamen ihr die Tränen. Sie hatte bemerkt, dass er sich wieder neben sie gekauert hatte, und war sicher, dass er sie nicht allein lassen würde. Aber sie wusste auch, dass er so lange auf seinen Fragen beharren würde, bis sie die ganze Wahrheit enthüllt hatten. Sie riss die Augen auf, und in diesem Augenblick haßte sie ihn. »Nein, lassen Sie mich in Ruhe, bitte gehen Sie!«

Er stand plötzlich auf und baute sich wieder vor ihr auf. Sein Körper warf einen langen, unförmigen Schatten, als die Sonne wieder aus den Wolken hervorkam. »Vielleicht ist es so am besten, dass Sie nicht mehr wissen, was passiert ist.«

»Ich erinnere mich an nichts«, stieß sie verzweifelt hervor.

»Wie bitte?«

»Sie haben mich Elizabeth genannt ... « Sie weinte.

Mit großen dunklen Augen, die Ungläubigkeit ausdrückten, blickte er sie an.

»Bin ich Elizabeth?«

Erstarrt musterte er sie.

»Bin ich Elizabeth?«

»Sie haben ihr Gedächtnis verloren ?«

Sein düsterer Blick verriet absolute Ungläubigkeit. Sie preßte das Gesicht in ihre Hände. Das Pochen in ihrem Hinterkopf hatte sich verstärkt und damit das Gefühl von Verwirrung und Verzweiflung, das sie nun geradezu überwältigte. Vor der Wahrheit gab es kein Entkommen. In ihrem Gedächtnis herrschte völlige Leere. Sie wusste nicht, was geschehen war, wichtiger noch, sie hatte keine Ahnung, wer sie war - sie kannte nicht einmal ihren eigenen Namen.

»Verdammt«, fluchte der Mann namens Slade.

Sie blickte auf in sein dunkles Gesicht. Ihr Peiniger konnte jetzt zu ihrem Retter werden, denn sie brauchte unbedingt Hilfe. Schlagartig begriff sie, wie dringend sie ihn benötigte.

»Bitte sagen Sie mir: Bin ich Elizabeth?«

Er antwortete nicht.

Hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Furcht kam sie taumelnd auf die Knie und umklammerte ihre Brust. Dabei schwankte sie so, dass sie gefährlich nahe an seine Schenkel geriet. »Bin ich Elizabeth?«

Sein Blick glitt über sie hinweg, die Ader an seiner Schläfe pochte. »Es hat nur eine Frau aus diesem Zug gefehlt, als er in Templeton ankam - Elizabeth Sinclair.«

»Elizabeth Sinclair?« Sie versuchte sich krampfhaft zu erinnern. Mit aller Macht ging sie gegen die ungeheure Leere in ihrem Gedächtnis an. Aber es gelang ihr nicht. Nicht ei

Erinnerungsschimmer zeichnete sich ab, während sie si

den Namen Elizabeth Sinclair immer wieder vor Auge führte. »Ich kann mich einfach nicht erinnern!«

»An gar nichts?«

Sie schüttelte heftig den Kopf.

»Was ist mit Ihrer Begleiterin?«

»Nichts!«

»Auch keine Erinnerung an den Zug?« »Nein!«

Er zögerte. »Und was ist mit James? Erinnern Sie sich nicht an ihn?«

»Nein!« jetzt verlor sie die Beherrschung. Tief gruben sich ihre Nägel in seinen Oberschenkel. Sie weinte vor Furcht und klammerte sich fest an ihn.

Nach einem kurzen Augenblick hob er sie auf ihre Beine und legte unbeholfen seine Arme um sie. Regina presste sich an ihn und schluckte an ihren Tränen und ihrer Furcht. Seine Brust an ihrer Wange fühlte sich glatt und heiß an. Obwohl sie unter der geradezu hypnotischen Wirkung ihres Schreckens stand, erfasste sie dennoch, dass sie sich auf eine äußerst ungehörige Weise benahm.

»Elizabeth.« Seine Stimme klang zwar rau, strahlte aber Stärke und Sicherheit aus. »Alles ist in Ordnung. Wir sind hier, um uns um Sie zu kümmern, und Ihre Erinnerung wird bald zurückkommen.«

Seine ruhige Besonnenheit war genau das, was sie jetzt brauchte. Sie ließ es zu, dass er sie wegschob, so dass kein Körperkontakt mehr zwischen ihnen bestand. Nachdem ihre Bemühungen um damenhafte Beherrschung etwas Erfolg gebracht hatten, richtete sie langsam, ja scheu, ihren Blick zu ihm auf.

Als er auf ihr Gesicht herabblickte, war dies nach ihrer Umarmung ein weiterer intimer Augenblick zwischen ihnen. Sie wandte den Blick nicht mehr von ihm ab, denn jetzt bedeutete er für sie alles, was sie hatte. »Danke«, flüsterte sie mit vor Dankbarkeit überschäumendem Herzen. »Danke.«

Röte überzog seine Wangen. »Danken Sie mir nicht. Dazu besteht keine Notwendigkeit.«

Fast musste sie lächeln, als sie sich die Augen mit dem behandschuhten Handrücken wischte. »Wie unrecht Sie haben«, entgegnete sie mit sanfter Stimme.

Er wandte sich ab. »Wir müssen aufbrechen, denn Rick wird in Templeton auf uns warten. Als der Zug ohne Sie eingelaufen war, ritt Edward fort, um ihn zu holen.«

»Rick? Edward?« Sollte sie diese Leute kennen? Die Namen waren ihr genauso wenig geläufig wie die anderen.

»Mein alter Herr«, sagte er kurz angebunden. Dabei ließ sein Blick sie nicht los. »Der Vater von James. Ich bin James' Bruder Slade. Edward ist der andere Bruder.«

Kläglich schüttelte sie den Kopf »Müsste ich Sie kennen? Oder James?«

Sein Gesicht war ausdruckslos. »Sie kennen mich und auch Edward nicht aber Rick. Und Sie kennen James, denn Sie sind seine Verlobte.«

Seine Verlobte. Beinahe bekam sie wieder einen Heulkrampf Sie konnte sich nicht einmal erinnern, dass sie verlobt war, und auch nicht an den Mann, den sie liebte. Lieber Gott, wie war das nur möglich? Ihr Kopf schmerzte derartig, dass sie fast nichts erkennen konnte. Als sie stolperte, fing Slade sie auf. Eine wohltuende Kraft ging von ihm aus.

»Es geht Ihnen nicht gut«, stellte er mit rauer Stimme fest. »Ich möchte nach Templeton weiter. Je eher Sie den Doc aufsuchen, um so besser.«

Sie war zu sehr von ihrer misslichen Lage überwältigt, um antworten zu können, und daher nur zu glücklich, seinen Anweisungen zu folgen. In ihrem Zustand, der durch die Erschöpfung noch verschlimmert wurde, konnte sie auch nicht die kleinste Entscheidung treffen oder einen Protest anbringen. Sie ließ es zu, dass er sie zu seinem Pferd führte. Benommenheit überkam sie, und weil dadurch ihre Furcht und Hysterie gedämpft und ihre Verzweiflung überdeckt wurden, war sie froh darüber.

»Sie hinken«, meinte Slade, als er ihren Arm ergriff. »Haben Sie sich am Knöchel verletzt?«

»Er tut etwas weh«, räumte sie ein, wobei sie versuchte, sich daran zu erinnern, wie es zu der Verstauchung am Knöchel gekommen war. Die Mühe war jedoch umsonst und die Bestürzung darüber war ihr wohl anzusehen, denn für einen kurzen Augenblick huschte Mitgefühl über Slades Gesicht. Er stand dicht vor ihr, so dass sie bemerkte,

dass seine Augen nicht schwarz oder gar braun waren. Sie waren vielmehr dunkelblau, höchst wachsam, ruhelos forschend, die Augen eines hochintelligenten Mannes. Kurz darauf war der sanfte Ausdruck daraus verschwunden, und Regina fragte sich, ob sie sich das nur eingebildet hatte.

Sie betrachtete den geduldigen Falben. Es war ihr bislang nicht in den Sinn gekommen, dass sie ein Pferd würden teilen müssen, denn dafür nahm sie ihr Missgeschick zu sehr in Anspruch. Doch jetzt war nicht der geeignete Moment, um auf die Einhaltung von Anstandsregeln zu bestehen, wie sie sich klarmachte. Er hob sie in den Sattel, sprang aber zu ihrer Überraschung nicht hinter ihr auf. Stattdessen führte er das Pferd zu Fuß am Zügel.

Regina geriet in Verzweiflung. Sie hatte nicht gedacht, dass er laufen würde. Seine spitzen Stiefel wirkten sehr unbequem, und außerdem herrschte eine unerträgliche Hitze. Sie wusste nicht, wie spät es war, vermutete aber, dass es früher Nachmittag war. Also würde es noch Stunden bis zum Sonnenuntergang dauern. »Wie weit ist es zur Stadt?«

»Etwa zehn bis zwölf Meilen.«

Sie nahm es mit Verblüffung zur Kenntnis.

Energisch führte er- das Pferd mit ausholenden, geschmeidigen Schritten. Dabei zeichneten sich die Muskeln auf seinem Rücken unter dem dünnen, feuchten Hemd deutlich ab, denn er hatte seine Weste abgelegt.

»Mr. Delanza«, sagte sie plötzlich, außerstande, ihn beim Vornamen zu nennen. Ohne anzuhalten, drehte er sich um und sah sie an. »Bitte, ich kann Sie nicht zu Fuß gehen lassen. Es ist viel zu weit.«

Er zwinkerte ihr zu. »Eine feine Lady wie Sie will mit mir den Sattel teilen?«

»Sie haben mir das Leben gerettet.«

»Jetzt übertreiben Sie aber etwas, finden Sie nicht?«

»Nein.« Heftig schüttelte sie den Kopf. »Ich bin Ihnen dankbar, und ich kann nicht reiten, während Sie zu Fuß gehen. Nicht eine solch lange Strecke. Bitte.« Sie errötete, kümmerte sich aber nicht darum. jedes Wort meinte sie so, wie sie es gesagt hatte. Mit Gewissheit verdankte sie ihm ihr Leben,. da er sie gefunden hatte. Sie konnte ihm das nicht mit herzloser Gefühllosigkeit vergelten. Er war alles, was sie hatte, und sie war sich dessen bewusst. Ein immer stärkeres Gefühl von Abhängigkeit wuchs in ...

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